
Um 5.43 Uhr geht am 17. Mai 2016 der Notruf bei der Leitstelle der Feuerwehr Duisburg ein. An der Straße Unter den Ulmen brenne eine Wohnung im Erdgeschoss, melden Anrufer. Es seien Menschen in dem vierstöckigen Haus. Als die ersten Retter wenige Minuten später eintreffen, stehen sie vor einem Inferno. Die Flammen haben über die Außenwand bis nach ganz oben gewütet und die Dachgeschosswohnung in eine Todesfalle verwandelt: An jenem Dienstagmorgen in Duisburg sterben eine 33-jährige Mutter und ihre 8- und 14-jährigen Söhne.
Später wird ein Gutachter vor Gericht die Mieterin aus dem Erdgeschoss für die fahrlässige Tötung strafrechtlich verantwortlich machen. Sie hatte eine Kerze umgeworfen, dadurch war ein Kissen in Brand geraten. „Einen Skandal“ findet das Reinhard Ries, Chef der Berufsfeuerwehr Frankfurt und einer der führenden deutschen Brandschutzexperten. Die Fassade habe bei der juristischen Aufarbeitung des Falles „keinerlei Berücksichtigung“ gefunden. Dabei habe das Feuer nur wegen der außen verbauten Dämmstoffplatten durch ein zerborstenes Fenster auf die Außenwand übergreifen und das Haus in eine Fackel verwandeln können. Ries’ Fazit: „So sterben Menschen, die ohne brennbare Fassade nie zu Schaden gekommen wären.“
Seit der Grenfell-Tower-Katastrophe in London vom 14. Juni wird europaweit nach brandgefährdeten Wohn- und Bürotürmen gefahndet, in Wuppertal wurde jüngst ein ganzes Hochhaus in nur 15 Minuten geräumt. Deutschlands Feuerwehr- und Brandschutzexperten geben dabei eine bestürzende Warnung ab: Das Brandrisiko hierzulande lauert fast überall, die Politik fahndet aber an den falschen Stellen. Denn statt Hochhäusern sind hierzulande vor allem niedrigere Bauten unterhalb der Hochhausgrenze von 22 Metern gefährdet – und damit die Mehrzahl der Gebäude. Dort schaut aber seit Jahren niemand mehr hin.
Experten zum Thema Brandschutz
Das Zünd- und Brandverhalten der Fassaden wird noch immer ausgehend von einem zu kleinen Bemessungsbrand im Gebäudeinneren getestet. Erhebungen der Feuerwehr Frankfurt zeigten aber, dass zwei Drittel der Brände, bei denen die Fassade betroffen war, von außen entstanden sind. Solche Szenarien, etwa durch brennende Müllcontainer, PKW oder auch Brandstiftung, müssen sich künftig auch in den Vorgaben für den Bemessungsbrand der Norm-Tests widerspiegeln.
Dirk Aschenbrenner, Direktor der Feuerwehr Dortmund, Präsident der Vereinigung zur Förderung des deutschen Brandschutzes - vfdb
Das Problem bei der Dämmung mit "schwer entflammbaren Baustoffen" ist: Die Brandprüfungen für diese Klassifizierung bilden keinen Zimmerbrand als Brandbelastung ab, sondern nur einen kleinen Entstehungsbrand. Wir haben leider eine völlige Überschätzung der Klassifizierung "schwer entflammbar". Viele halten das für so was Ähnliches oder nur geringfügig schlechteres als "nicht brennbar". Aber es ist eben genau das: "brennbar", und wenn solch ein Baustoff brennt, dann mit der gleichen Rauch- und Wärmeentwicklung wie ein normal entflammbarer Baustoff.
Wiebke Thönißen, Brandschutzingenieurin, Tornesch
Das politische Ziel der Deregulierung im Bauwesen, das Kosten senken und Fristen verkürzen sollte, hat auch dazu geführt, dass bei Gebäuden unter der Hochhausgrenze, nun der Architekt garantieren soll, dass die Brandschutzvorgaben eingehalten werden. Das Problem ist, das Thema Brandschutz gehört bis heute gar nicht zum Pflichtlernstoff von Architekten. Also müssen sie sich die Kompetenz wieder von externen Experten zukaufen - und die Folge ist, dass das Bauen an der Stelle wieder teurer wird.
Reinhard Ries, Direktor der Feuerwehr Frankfurt
Wir stehen beim Baurecht in einem Zielkonflikt: Einerseits heißt es, Bauen ist zu teuer, der Brandschutz zu rigide. Andererseits kommt nach Vorfällen wie zuletzt in London der Vorwurf, die Schutzvorschriften seien nicht streng genug. Aber das ist letztlich eine gesamtgesellschaftliche Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers, wie viel Risiko und zu welchen Kosten dies der Gesellschaft hinnehmbar erscheint. Diese Festlegungen werden nach öffentlicher Diskussion vom Gesetzgeber vorgenommen. Unsere Aufgabe ist es, diese bauordnungsrechtlichen Schutzziele entsprechend in technischen Vorgaben umzusetzen.
Doris Kirchner, Referatsleiterin Deutsches Institut für Bautechnik - DIBt
Wir haben rund 300 Hochhäuser in München, bei denen wir regelmäßig sogenannte Brandverhütungsschauen durchführen. Dafür gibt es einen Mitarbeiter, der jedes Jahr rund 100 Hochhäuser begutachten muss, und damit steht München bundesweit noch gut da. Die Fassade ist aber nur einer von vielen Prüfpunkten - von der korrekt schließenden Rauchschutztür bis zur Funktionsfähigkeit der Brandmeldeanlage. Was also nicht offensichtlich defekt oder falsch montiert ist, fällt nicht auf.
Peter Bachmaier, Leitender Branddirektor und Leiter der Abteilung Einsatzvorbeugung – Vorbeugender Brandschutz Feuerwehr München
Für eine Überprüfung möglicher Brandgefahren bei Fassaden werden im ersten Schritt alle Eigentümer der Hochhäuser angeschrieben mit der Aufforderung die Fassadenkonstruktion ihres Gebäudes zu begutachten und das Ergebnis an die Oberste Bauaufsicht zurückzumelden. Je nach Rückmeldung wird entschieden, ob in einem zweiten Schritt eine örtliche Überprüfung erforderlich ist beziehungsweise, ob Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen sind. Die Neubewertung von Brandrisiken bei Gebäuden mit Wärmedämmverbundsystemen, die nicht in die Hochhausklasse fallen, wird zur Zeit nicht diskutiert.
Dr. Claus Woitha, Branddirektor, Vorbeugender Brand – und Gefahrenschutz Hamburg
Wie ernst die Gefahr ist, belegt eine Aufstellung, die Experten im Auftrag der Berufsfeuerwehren (AGBF) und des Deutschen Feuerwehrverbandes erstellt haben. Sie liegt inzwischen bei der Bauministerkonferenz der Länder. Der 30-Seiten-Katalog mit dem sperrigen Namen „Brandereignisse in Verbindung mit Wärmedämm-Verbundsystemen“ zeigt: Duisburg ist nur einer von 99 Brandfällen, bei denen Wandisolierungen mit Wärmedämm-Verbundsystemen maßgeblich für die Ausbreitung von Bränden verantwortlich waren. Elf Tote und 124 Verletzte gab es bei solchen Bränden seit 2005. Allen Fällen gemeinsam ist: Die Opfer traf es nicht in den ursprünglichen Brandwohnungen, sondern die Flammen eskalierten außen an der Fassade – was den Einsatz von Feuerwehrleitern oft unmöglich machte.
Dabei sind Brände, bei denen die Fassade in Flammen aufgeht extrem gefährlich: Die Gefahr, bei dem Feuer zu sterben, steigt um das 80-Fache, zeigen die Zahlen aus dem Dokument. In Deutschland kommen bei 200 000 Hausbränden rund 300 Menschen jährlich um. Das entspricht bei 1000 Brandereignissen statistisch gesehen 1,5 Toten. Bei den Bränden mit entzündeter Fassade liegt diese Zahl bei 122 Toten.
Gefahrensuche an der falschen Stelle
Die Politik sucht nach dem Hochhausbrand in London aber an der falschen Stelle nach Gefahrenquellen. So hat Bundesbauministerin Barbara Hendricks die zuständigen Bauminister der Länder aufgefordert, sie sollten „kurzfristig erheben“, wo in Deutschland Risikobauten stehen könnten. Die kommunalen Behörden untersuchen seit Wochen dabei fast ausschließlich Hochhäuser. Profibrandschützer bezweifeln aber, dass es hierzulande viele Hochhäuser wie in Wuppertal gibt, deren Fassade den Vorgaben der geltenden Muster-Hochhausrichtlinie nicht entsprechen. Nur bei „echten Altbauten wie in Wuppertal kann es noch ein paar Überraschungen geben“, sagt etwa Jochen Stein, leitender Branddirektor in Bonn und Vorsitzender der AGBF. Umso größer und unkalkulierbar hoch ist hingegen das Risiko bei Gebäuden unterhalb des Hochhauslimits.