Wenn man wissen will, wie ein neues Hightechmonster so ist, fragt man am besten die, die es am meisten nutzen. Markus Paetow fährt seit 25 Jahren als Lokomotivführer bei der Deutschen Bahn. Er hat sie alle durch: den ICE der ersten bis zur dritten Generation. Der ICE 1 sei bisher sein „Lieblingszug“, sagt er, weil er die Hochgeschwindigkeit Anfang der Neunzigerjahre auf die Schiene gebracht hat und „relativ robust“ sei.
Seit einigen Wochen testet Paetow den neuen ICE 4, den die Deutsche Bahn spätestens Ende 2017 in den Regelbetrieb übernehmen will. „Der Zug“, sagt der Bahner, „geht ab wie Schmitz' Katze“. „Er liegt wie ein Brett auf der Schiene.“ Der Zug sei luftgefedert, besser und ruhiger als jedes Vorgängermodell. „Das ist wie Schweben durch die Republik.“
"Das Rückgrat der Fernverkehrsflotte"
Paetow ist begeistert. Seine Kollegen sind es ebenfalls. Und künftig sollen es auch die Kunden sein. Doch ob das so sein wird, hängt davon ab, ob die Fahrgäste die Innovationen, die der Bahn-Vorstand verspricht, auch wirklich schätzen werden.
Für die Deutsche Bahn ist der heutige Tag jedenfalls ein ganz wichtiger. Das Unternehmen stellt in Berlin ihren ersten ICE4 der Öffentlichkeit vor. Ein Produkt von Siemens und Bombardier. Der Zug werde „das Rückgrat der Fernverkehrsflotte“ sein, sagt Berthold Huber. Der Personenverkehrsvorstand schwärmt von der „größten und teuersten Bestellung“ in der Geschichte des Konzerns. 130 Züge im Wert von 5,3 Milliarden Euro sind geordert. Sie sollen die Metropolen im Stundentakt miteinander verbinden. „Perspektivisch zwei Mal pro Stunde“, so Huber.
Der ICE4 soll die Deutsche Bahn auch aus der Krise fahren. Er soll das Zugfahren wirtschaftlicher machen. Das könnte gelingen, weil er 22 Prozent weniger Energie verschlingt. Und er soll bis 2030 pro Jahr 50 Millionen mehr Menschen auf die Schiene bringen. „Bahnfahren ist Nutzzeit“, verspricht Huber.
Licht variiert nach Tageszeit
Innovationen gibt es einige. Viele verstecken sich im Detail. Nicht alle wirken auf den ersten Blick sinnvoll, andere durchaus. Und ob einige Verbesserungen wirklich nützlich sind, wird sich erst im Alltag zeigen.
Ein neues Beleuchtungskonzept sieht vor, dass das Licht in Abhängigkeit der Tageszeit variiert. Ist es früh am Morgen, werden die Fahrgäste mit einem kühlen Blau empfangen. Im Laufe des Tages wechselt die Beleuchtung über hell bis orange-rot. „Das ist ein bisschen wie zu Hause, wo wir auch nicht immer das gleiche Licht haben“, sagt Fernverkehrschefin Birgit Bohle. Ihr Highlight seien jedoch die größeren Fenster. Schließlich sollen die Kunden das Zugfahren genießen, indem sie auch die Landschaft sehen.
Die Toiletten sind größer als die bisherigen Klos etwa im ICE 3. Dadurch lässt sich die Tür schließen, ohne dass man fast über den Toilettenrand steigen muss. Es ist genug Platz da, um die Tür bequem zu schließen. Besonders gut gelungen: Die Fummelei mit dem Papiertüchern soll ein Ende haben. Das Papier passt angeblich besser in den Spender. Im Test ist das der Fall.
Hochgeschwindigkeitszüge in anderen Ländern
In Italien konkurrieren zwei Anbieter von Schnellzügen um die Kunden. Neben der Staatsbahn Trenitalia gibt es seit 2012 auch die privaten Italo-Züge. Italo bedient mit seinen schnellen und modernen Zügen des französischen Konzerns Alstom weniger Strecken als Trenitalia, setzt aber vor allem auf Komfort und Service. So gibt es in der ersten Klasse Essen am Platz, dazu kommen Wlan und die Möglichkeit eines eigenen Unterhaltungsprogramms. Trenitalia hat vor kurzem seinen neuen Frecciarossa 1000 präsentiert, der bis zu 400 Stundenkilometer schnell fährt. Die Freccia-Züge setzen eher auf gute Verbindungen, hohe Geschwindigkeit und wenige Haltepunkte. In den Schnellzügen beider Anbieter gilt generell eine Reservierungspflicht.
In Spanien hebt das staatliche Eisenbahnunternehmen Renfe vor allem die Pünktlichkeit der mit Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 310 Stundenkilometern fahrenden Schnellzüge hervor. Ab Herbst sollen die Waggons zunächst auf der Strecke zwischen Madrid und Barcelona mit Wlan ausgestattet werden. Der Hochgeschwindigkeitszug AVE hat im Juli 1,84 Millionen Reisende transportiert und damit einen neuen Rekord aufgestellt. Mit einem Streckennetz von knapp 3150 Kilometern ist das AVE-System im europäischen Highspeed-Sektor führend. In den kommenden Jahren soll das Netz für rund zwölf Milliarden um weitere 1850 Kilometer erweitert werden. Geplant sind außerdem 30 neue Züge im Wert von 2,65 Milliarden Euro.
In Frankreich soll 2022 eine neue Generation des Hochgeschwindigkeitszugs TGV in Betrieb gehen. Das Modell wird vom Bahnkonzern SNCF und dem Siemens-Rivalen Alstom gemeinsam entwickelt. Der neue TGV soll billiger und sauberer werden und in der Anschaffung sowie im Betrieb mindestens 20 Prozent günstiger sein. Geplant ist außerdem, den Energieverbrauch um mindestens ein Viertel zu senken. Der erste TGV ging 1981 an den Start und war der Vorreiter der Hochgeschwindigkeitszüge in Europa. Er verbindet die wichtigsten Städte des Landes. Die mehr als 400 Kilometer von Paris bis Lyon schafft er mit teilweise über 300 Stundenkilometern in rund zwei Stunden.
Der wohl bekannteste Schnellzug in Großbritannien ist der Eurostar, der Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 320 Kilometern pro Stunde erreichen kann. Seit Ende 2015 ist das Modell e320 von Siemens im Einsatz und verbindet London, Paris und Brüssel. Auf der Hochgeschwindigkeitstrasse High Speed 1 (HS 1) zwischen London und dem Eurotunnel fährt aber auch der sogenannte Class 395 „Javelin“ der britischen Eisenbahngesellschaft Southeastern Railway, der 225 Stundenkilometer erreicht. Gestritten wird wegen hoher Kosten über eine Nord-Süd-Trasse (HS 2) zwischen London, Birmingham, Sheffield, Manchester und Leeds. Der Bau der Strecke soll 2017 beginnen - das Parlament hat aber bisher nur für einen Teil grünes Licht gegeben.
In Polen setzt die Staatsbahn PKP auf Schnelligkeit und Komfort. Für umgerechnet etwa sieben Milliarden Euro ließ das Unternehmen seit 2012 Schienennetz, Bahnhöfe und Züge erneuern. Zum Modernisierungsprogramm gehört etwa der Kauf der elektrischen Triebzüge ED250 Pendolino des Herstellers Alstom. Sie erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern. Für eine bequeme Reise sorgen ausziehbaren Sitze, individuelle Beleuchtung und Steckdosen an jedem Platz. Diesen Komfort in der Kategorie Express InterCity Premium (EIP) soll sich mittels Frühbucherrabatten jeder leisten können. Tickets gibt es ab umgerechnet 11 Euro. Ein Imbiss und sowie ein Getränk an Bord sind im Preis inbegriffen.
Japans derzeit schnellster Zug ist der Shinkansen. Da der Eisenbahnbetrieb auf nationaler Ebene seit den 1980er Jahren privatisiert ist, gibt es mehrere Betreiber für die Hochgeschwindigkeitszüge. Die meist befahrene Strecke zwischen Tokio und Osaka fällt unter die Zuständigkeit des Bahnunternehmens JR Tokai. Dieses verfolgt angesichts des immer heftigeren Konkurrenzkampfes mit Billigfliegern die Ziele, schneller, komfortabler und sicherer zu werden, ohne dabei die Preise zu senken. Mit einem neuen Bremssystem sollen die rund 130 Züge zudem mit einer Höchstgeschwindigkeit von 285 km pro Stunde fahren können.
Einen komplett neuen Anstrich bekommt das Bordbistro. Künftig gibt es eine großzügige Glasvitrine, die Salate, Snacks und Kuchen in einer üppigen Auslage präsentiert. Die Mitarbeiter erhalten in der Küche mehr Platz. Der Gang zwischen Küche und Fenster wird allerdings noch schmaler. Für die Kunden wirkt das Bistro jedenfalls deutlich übersichtlicher. Das Bordrestaurant erhält einen Gepäckbereich, wo die Gäste ihre Koffer abstellen und ihre Garderobe aufhängen können.
Fahrrad-Stellplätze müssen reserviert werden
Neu ist auch, dass die Bahn im ICE 4 die Mitnahme von bis zu acht Fahrrädern erlaubt – je nach Zuglänge. Den Stellplatz müssen die Passagiere extra reservieren. Derzeit kostet die Fahrradmitnahme sechs Euro für Bahncard-Kunden und neun Euro für alle anderen. Die Bahn-Manager wollen damit vielen Kundenwünschen entgegen kommen. Aber sie wissen auch um das Risiko. Wenn an einem Bahnhof eine komplett Radfahrer-Gruppe mit acht Rädern aussteigt und eine ebenso große Truppe einsteigt, könnte das die Abfahrt verzögern. Denn die Türen sind keine Zentimeter breiter. "Wir erwarten aber keine strukturellen Probleme", sagt Huber.
Die Achillesferse des neuen Konzepts könnten die neuen Sitze sein. Die Bahn ist stolz auf sie, weil sie Platz sparen. In der Grundposition sitzen Fahrgäste aufrecht. In der Komfortstellung rutschen Sitzfläche waagerecht und die Rückenlehne schräg nach vorne. Die Kopfstützen und Sitzschalen bleiben fix. Das spart Platz im Zug.
Die Ergonomie des Sitzes soll dem Fahrgast das Gefühl vermitteln, als würde er die Rückenlehne nach hinten schieben. Ob der Kunde das auch so wahrnimmt, dürfte eine der kniffligsten Fragen sein. Denn. Im Test wirkte die Komfortstellung noch gewöhnungsbedürftig.
Die Bahn weiß um mögliche Schwächen. Und sie kann immer noch korrigieren. Denn der Konzern testet den Zug zunächst ab Spätherbst auf der Strecke von Hamburg über Kassel und Nürnberg nach München im Echtbetrieb, sobald die Zulassung des Eisenbahnbundesamtes vorliegt. Die Pilotphase dauert bis Ende 2017.
Dann geht die Produktion der Zuges in Serie. Siemens baut dann mehr als 50 Züge pro Jahr. Im Jahr 2023 soll der letzte ausgeliefert werden. Die Bahn könnte noch eine Option über weitere 90 Züge ziehen. Das würde zusätzliche zwei Milliarden Euro kosten.
Schnelle Beschleunigung statt Geschwindigkeitsrekorde
Das Besondere am Zug ist die Flexibilität. Jeder Zug wird über mehrere so genannte Powercars angetrieben, sprich: kleine Lokomotiven. Die Züge könnten dadurch fünf bis 14 Wagen lang sein. Die Deutsche Bahn hat zwei Varianten bestellt: Einen Sieben-Teiler mit 456 Sitzplätzen und einer Spitzengeschwindigkeit von 230 Kilometer pro Stunde. Und einen Zwölf-Teiler mit Platz für 830 Passagiere und einer Höchstgeschwindigkeit von 250 Kilometer pro Stunde.
Neue Züge der Deutschen Bahn
Die neuen ICx von Siemens erhalten eine Beleuchtung, die sich an Zeit und Außenstimmung anpasst. Zudem erlauben sie die Mitnahme von Rädern. Die ersten der 130 bestellten Züge kommen 2017. Investition: 5,3 Milliarden Euro. Pro Jahr liefert Siemens 20 Stück. Ein rund 200 Meter langer Zug besteht beim ICx aus sieben statt acht Wagen wie beim ICE. Das senkt Kosten und bringt mehr Sitzplätze. Siemens baut zwei Modelle: 345 und 202 Meter lang, Höchsttempo 249 und 230 Kilometer pro Stunde.
Die Doppelstockzüge von Bombardier kommen vor allem auf Nebenstrecken zum Einsatz. Anders als im Nahverkehr, wo sie bereits als Regionalexpress unterwegs sind, erhalten die 44 bestellten Dostocks das blaue Velours-Ambiente eines Intercity. Investition: 660 Millionen Euro. Es gibt keinen Schnickschnack: Sitzreihen und Toiletten sind enger, kein Bordrestaurant, stattdessen mobiler Gastro-Service. Betriebliche Vorteile: Die Züge sind in der Länge variabel und gelten als extrem verlässlich.
Das relativ bescheidene Tempo zeigt: Die Züge sind ein Produkt für Deutschland. Während andere Länder weite Strecken überbrücken müssen, um Metropolen zu verbinden, braucht die Bahn Züge, die zügig beschleunigen und nicht mit Geschwindigkeitsrekorden protzen. Siemens glaubt daher kaum einen Exporterfolg des ICE4. Auf der in wenigen Tagen startenden Bahnmesse Innotrans in Berlin wird der ICE4 nicht ausgestellt.
Der ICE 4 leitet damit auch das Ende der Höchstgeschwindigkeit in Deutschland ein. Ende 2017 wird zwar zwischen Erfurt und Nürnberg ein letztes Teilstück eröffnet, auf dem Züge bis zu 300 Kilometer pro Stunde fahren können. Doch für die Verbindungen zwischen Berlin und München ist das irrelevant. Siemens-Berechnungen haben ergeben, dass der ICE4 auf dieser Strecke ganze drei Minuten gewinnen würde, wenn er schneller als 250 km/h fahren könnte. Mit Ausnahme der wenigen Sprinter-Züge pro Tag, die die Städte nonstop verbinden, verkehrt der ICE4 vor allem im „Stop and Go“.