Das Timing ist gut. Um Punkt 12 Uhr stehen Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) sowie Finanzminister Christian Lindner (FDP) in neongelben Leuchtjacken auf dem Sonnendeck des Ausflugsschiffs MS Helgoland.
Die Ampel arbeitet, soll diese PR-Nummer besagen. Der Wind pfeift. Es ist kalt, ein nebliger Tag, die Nordsee ist grün. Aber ein wenig lugt gerade jetzt die Sonne wie eine goldene Platte durch die Wolkendecke, das erste Mal an diesem Tag. Das Schiffshorn tutet. Die Helgoland grüßt.
Und es kommt eine Antwort. Laut, brummend und mächtig, von jenem fast 300 Meter langen Schiff, das gegenüber vertäut ist: Dort, an jenem brandneuen Anleger, liegt die „Esperanza“, die Speicher- und Verdampfungseinheit, Englisch: Floating Storage and Regasifiction Unit (FSRU), oder kurz: das erste schwimmenden LNG-Terminal Deutschlands. Auch die Esperanza grüßt per Schiffshorn.
Damit ist an diesem Samstagmittag das erste LNG-Terminal quasi regierungsamtlich geweiht, Deutschlands erste eigene Alternative zu Putins Pipeline-Gas, erbaut binnen zehn Monaten in einer, wie sie hier gerne sagen, „neuen Deutschlandgeschwindigkeit“. Die Stimmung ist so gut, dass eigentlich nur noch fehlt, dass sich ein Regenbogen aus dem Himmel wölbt und Glitzer über die drei von der Ampel ausschüttet.
„Wir lassen uns nicht erpressen“
Deutschland und die Europäische Union, sagt Olaf Scholz ein wenig später unter Deck, würden nun ein Stück „sicherer und unabhängiger.“ Wladimir Putin habe sich getäuscht. „Wir lassen uns nicht erpressen.“ Die Esperanza sei erst der Beginn, es würden viele weitere Terminals folgen. „Wilhelmshaven ist erst der Anfang.“
Der Weg zu Deutschlands erstem LNG-Terminal
27. Februar: Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und die Abhängigkeit von russischem Erdgas kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner „Zeitenwende“-Rede den schnellen Bau von zwei LNG-Terminals in Deutschland an. Er nennt dabei die Standorte Brunsbüttel in Schleswig-Holstein und Wilhelmshaven in Niedersachsen.
14. März: Niedersachsens damaliger Energieminister Olaf Lies (SPD) kündigt nach einem Treffen der „Taskforce LNG Wilhelmshaven“ an, dass über ein geplantes Terminal in Wilhelmshaven noch vor dem Winter 2023 Flüssigerdgas importiert werden könnte.
8. April: Der Gastnetzbetreiber Open Grid Europe (OGE) erklärt, eine rund 26 Kilometer lange Anbindungs-Pipeline von einem noch zu bauenden LNG-Terminal bei Wilhelmshaven bis an den nächsten Anschluss an das Gas-Fernleitungsnetz im Landkreis Wittmund bauen zu wollen.
14. April: Die Bundesregierung gibt bekannt, für vier schwimmende LNG-Terminals in den kommenden zehn Jahren bis zu drei Milliarden Euro ausgeben zu wollen. Später folgen noch Pläne für ein weiteres staatlich organisiertes schwimmendes Terminal.
5. Mai: In Anwesenheit von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) werden mit dem ersten Rammschlag in Wilhelmshaven die Bauarbeiten für den Anleger des schwimmenden LNG-Terminals begonnen.
19. Mai: Der Bundestag beschließt ein Gesetz, um die Genehmigung von LNG-Terminals zu beschleunigen. Bestimmte Verfahrensschritte etwa bei der Umweltverträglichkeitsprüfung können so ausgelassen werden.
4. Juli: Das staatliche Gewerbeaufsichtsamt Oldenburg gibt dem Energiekonzern Uniper grünes Licht für den vorzeitigen Baustart für das LNG-Terminal in Wilhelmshaven.
19. Juli: Die Bundesregierung teilt mit, dass zwei Spezialschiffe als schwimmende Importterminals noch zum Jahreswechsel 2022/2023 für die Einsatzorte Wilhelmshaven und Brunsbüttel zur Verfügung stehen.
4. August: Die Bauarbeiten an der neuen Anbindungs-Pipeline beginnen.
12. August: Mehrere hundert Aktivisten der Gruppierung „Ende Gelände“ besetzen vor einem geplanten Besuch des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) eine Terminal-Baustelle.
16. August: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck unterzeichnet eine Absichtserklärung mit Energieunternehmen, dass die Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel bis zum März 2024 „vollausgelastet“ Gas zur Verfügung gestellt bekommen.
15. November: Der Anleger für das LNG-Terminal ist fertiggestellt.
9. Dezember: Betreiber Uniper teilt mit, dass am 22. Dezember das erste Gas über das neue LNG-Terminal ins Erdgasnetz eingespeist werden soll.
12. Dezember: Das letzte Teilstück der neuen Anbindungs-Pipeline wird mit einer Schweißnaht an das Fern-Gasnetz angeschlossen.
15. Dezember: Das Spezialschiff „Höegh Esperanza“ und technisches Herzstück der Anlage trifft in Wilhelmshaven ein und macht am Anleger fest.
16. Dezember: Die zuständige Behörde in Niedersachsen gibt die letzte noch ausstehende wasserrechtliche Erlaubnis für den Betrieb des Terminals. Geregelt ist auch die Einleitung von chlorhaltigen Abwässern ins Meer. Umweltschutzverbände kritisieren das.
17. Dezember: Das Terminal in Wilhelmshaven wird als erstes deutsches Importterminal für Flüssigerdgas in Anwesenheit von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eröffnet.
Scholz lobt auch die Arbeit der eigenen Regierung: „Wir haben hier als ganze Regierung an einem Strang gezogen“, sagt der Kanzler – und bedankt sich nicht nur bei Ländern und Kommunen, sondern auch bei seinen Regierungskollegen Robert Habeck und Christian Lindner. Die zweite wichtige Botschaft dieses Tages laute „Es geht“, sagt Olaf Scholz. Die Geschwindigkeit, die beim Bau des neuen Anlegers in Wilhelmshaven, beim Bau der rund 26 Kilometer langen Pipeline zum nächsten Gasnetzknotenpunkt in Etzel an den Tag gelegt worden sei, sei ein Vorbild für weitere Projekte. „Das ist das neue Deutschlandtempo, mit dem wir Infrastrukturprojekte voranbringen“, sagt Scholz.
Mindestens fünf Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr
Tatsächlich markiert die Einweihung der Esperanza einen tiefen Einschnitt in der deutschen Energieversorgung. Bislang hatte das Land kein einziges LNG-Terminal, das tiefgekühltes Flüssigerdgas erwärmen und in seinen ursprünglichen Zustand zurückverwandeln kann, Deutschland war vor allem von Putins billigem Pipeline-Gas abhängig. Das ändert sich jetzt.
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Bereits am vergangenen Donnerstag ist die Esperanza der norwegischen Reederei Höegh in Wilhelmshaven angekommen, betankt mit rund 165.000 Kubikmeter Flüssigerdgas. Das wird nun umgewandelt. Ab Januar werden LNG-Tanker längs an der Esperanza festgemacht, das FSRU wird ihre Ladung regasifizieren. Über den Steg des Kunststoffherstellers Vynova führt eine Pipeline mit Durchmesser 60 Zentimeter, an Land geht die in die neue, rund 26 Kilometer lange Verbindung zum nächsten Netzknotenpunkt in Etzel über. So sollen jährlich mindestens 5 Milliarden Kubikmeter Erdgas in das deutsche Gasnetz eingespeist werden. Das entspricht etwa sechs Prozent des deutschen Gasbedarfs und würde somit rund elf Prozent von Deutschlands Gasimporten aus Russland ersetzen.
In diesem Winter 13,5 Milliarden Kubikmeter über neue Terminals
Insgesamt fünf dieser FSRUS hat die Bundesregierung angemietet. Neben Wilhelmshaven soll in diesem Winter noch ein zweites schwimmendes Terminal in Brunsbüttel in Schleswig-Holstein in Betrieb gehen, ebenso ein privates Projekt der Firma Deutsche Regas in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern. Im Hafen von Lubmin ist am Samstag das FSRU Neptune eingetroffen. Im Lauf des nächsten Jahres kommen weitere Terminals in Wilhelmshaven, Stade und Lubmin dazu, in den Jahren danach noch drei so genannte landgebundene LNG-Terminals.
Das alles soll die russischen Lieferausfälle nach und nach kompensieren. Deutschland hat vor der Krise in etwa 55 Milliarden Kubikmeter (BCM) Erdgas aus Russland importiert, die es zu ersetzen gilt. Werden die drei schwimmenden LNG-Terminals in Wilhelmshaven (Kapazität: 5 bis 7,5 Milliarden Kubikmeter, kurz BCM), Lubmin (5-7 BCM) und Brunsbüttel (erst 3,5 BCM, dann 7,5 BCM) in diesem Winter noch in Betrieb genommen, steht eine Kapazität von etwa 13,5 BCM zur Verfügung.
Ausgaben in Höhe von knapp 10 Milliarden Euro
Im Lauf des Jahres 2023 sollen weitere FSRUs in Wilhelmshaven (5-6,9 BCM), Stade (5-7,5 BCM) in Niedersachsen und Lubmin (5-7,5 BCM) hinzukommen. Dann würden insgesamt sechs Terminals für eine Gesamtkapazität von über 32,5 BCM, importiert über Infrastruktur allein an der norddeutschen Küste, sorgen. Das würde für den nächsten Winter 2023/24 bedeuten, dass eine Lücke von etwas mehr als 20 BCM geschlossen werden müsste – etwa durch zusätzliche Importe aus den Niederlanden oder Norwegen oder durch Importe von LNG-Terminals in den Niederlanden, in Belgien und in Frankreich. Auf diese zusätzlichen Quellen verwies auch Olaf Scholz an Bord der MS Helgoland. 2021 verbrauchten die Deutschen 90,5 Milliarden Kubikmeter Gas. Rund ein Drittel wäre dann allein über die neuen FSRUs abgedeckt, fünf staatlich und ein privat finanziertes. Mitte des Jahrzehnts sollen dann die an Land installierten LNG-Terminals dazu kommen – in Wilhelmshaven (30 BCM), Stade (13,3 BCM) und Brunsbüttel (10 BCM). Ausgaben in Höhe von rund 9,6 Milliarden Euro hat die Bundesregierung bis 3038 für den LNG-Import veranschlagt.