Wer eine Wand verputzen will, kauft Sockelputz im Baumarkt, rührt ihn mit Wasser an und klatscht ihn auf die Wand. Ungleich umständlicher und aufwändiger gestaltet sich dieser Prozess, wenn man den Schweizer Architekten Hans-Jörg Ruch beauftragt, alte Gemäuer zu sanieren. An einem sonnigen, kalten Oktobermorgen steht Ruch mit zwei Männern in einer luftigen Scheune eines alten Engadinerhauses, neben ihm ein kleines Modell aus Styropor und Holz, vor sich ein halbes Dutzend bunter Plastikeimer. Die Eimer sind gefüllt mit Sand, Kies und Kalkstein, und die Männer diskutieren, in welchem Verhältnis sie die Zutaten für den Mörtel mischen sollen.
Haus und Scheune stehen inmitten der Gemeinde Celerina, nahe Sankt Moritz. Die „Chesa Petzi“ ist die jüngste Großbaustelle von Hans-Jörg Ruch (73) und die Putzmischung, die der portugiesische Handwerker Vitor Santos (49) vor den Augen des Architekten nun anrührt, ist bereits der vierte oder fünfte Versuch, so genau weiß Ruch das gar nicht. Ruch hat sich eine dunkelgrüne Jacke und dicke Stiefel angezogen, auf dem Kopf trägt er eine graue Schiebermütze gegen den Durchzug. Mit seinen 1,78 Meter könnte er in den Räumen des oberen Stockwerks gerade noch aufrecht stehen. Hier aber, unter der acht Meter hohen Decke aus Lärchenholz, scheinen er und seine Kollegen beinahe zu verschwinden.
An einer Wand der Scheune lehnen Gipsplatten, auf denen die vorherigen, längst getrockneten Putz-Varianten aufgetragen sind. Für den Laien wären sie kaum zu unterscheiden. Für Ruch aber geht es um die Frage, welche Struktur und Grauanteile der Putz einer neu eingezogenen Wand aufweisen muss, um dem Charakter des Hauses gerecht zu werden. Die alles entscheidende Putz-Frage lautet heute: Soll er sich an der alten Wand orientieren, die von der Scheune in den Wohnraum führt, oder doch lieber an der Außenfassade? Hans-Jörg Ruch fragt in die Runde: „Zu wem muss der neue Putz sprechen?“ Seinen Worten folgen kleine Atemwolken. Die Antwort, doziert er dann, sei nie richtig oder falsch. Es gehe um „ein Hintasten zur Lösung“. Mit Sockelputz aus dem Baumarkt jedenfalls, bekräftigt Restaurator Ivano Rampa (56), „bekommt man diese Struktur einfach nicht hin“.
Das Neue muss sich dem Alten unterordnen
Hans-Jörg Ruch ist Gründer und Mehrheitseigner der „Ruch & Partner Architekten AG“ mit Sitz in St. Moritz. Sein Büro beschäftigt 13 Mitarbeiter, inklusive Sohn Andreas (34), der Anfang des Jahres die Geschäftsführung übernommen hat. Hans-Jörg Ruch hat sich einen Namen gemacht mit Umbauten historischer Bauern- und Patrizierhäuser im Engadin: Oft baut er die Jahrhunderte alten und mit der Zeit veränderten Häuser zurück auf ihre ursprünglichen Strukturen, um dann moderne Akzente zu setzen. Seine Devise: „Das Neue muss sich dem Alten unterordnen.“ Die Fachzeitschrift „Architectural Digest“ lobte seine Arbeit: „Vom Privathaus bis zum Siedlungsprojekt: Hans-Jörg Ruch ist in nahezu jedem Maßstab ebenso versiert wie produktiv.“
Engadiner Häuser wie die Chesa Petzi sind zumeist dreistöckige Bauernhäuser aus dem 15. oder 16. Jahrhundert, mit meterdicken Steinmauern, tiefen Fensterfluchten und einer integrierten, haushohen Stallscheune. Wohn- und Ökonomieteil der Häuser hatten selten separate Eingänge: Die Tore mussten groß genug sein, dass auch mit Heu beladene Wagen hindurchfahren konnten. „Das Engadinerhaus ist eine absolut geniale Erfindung, alles unter einem Dach“, schwärmt Ruch zwischen all den Platten mit Putz.
Berlusconi, Armani und Bodum zählen zu den Besitzern
Wer heute solch ein Haus erwerben möchte, braucht Glück und Geld: unter einer Million Franken ist keines zu haben, viele kosten zehn Millionen und mehr. Kein Wunder: St. Moritz und Umgebung zählen zu den attraktivsten Immobilienmärkten, im gesamten Engadin sind die Preise zwischen 1995 und 2005 um 42 Prozent stärker angestiegen als im Schweizer Durchschnitt, und auch heute ist die Nachfrage ungebrochen groß. Aber: „Das Angebot an Engadinerhäusern ist nicht groß“, sagt Barbara Derksen, die das Büro des Immobilienmaklers Engel&Völkers in St. Moritz leitet. „Pro Ortschaft gibt es vielleicht noch drei oder vier Objekte.“
Als Nicht-Schweizer sei es noch einmal schwieriger, solch ein Haus zu erwerben, erklärt sie, „weil es vom Schweizer Staat strikte Auflagen gibt, etwa für die Größe einer Liegenschaft. Die meisten dieser Häuser bleiben somit in Schweizer Hand.“ Aber es gibt immer wieder mal kommunale Ausnahmen. Und manche Objekte werden auch über Umwege gekauft. Der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi etwa zählt zu den Besitzern, ebenso wie Modedesigner Giorgio Armani und Jörgen Bodum, Inhaber des gleichnamigen dänisch-schweizerischen Küchengeräte-Herstellers.
Und doch wäre es falsch, in Hans-Jörg Ruch jemanden zu sehen, der den Markt für millionenschwere Spekulationsobjekte stimuliert. Das liegt vor allem an seiner besonderen Achtung vor dem Heustall, der einen Großteil des Gesamtvolumens dieser Häuser ausmacht: Dieser ist ihm beinahe heilig, er lässt ihn möglichst unberührt. Allenfalls lässt er, wie im Falle der Chesa Petzi, einen möglichst unauffälligen Wohnkubus einsetzen. Ruch sagt: Viele Architekten und Bauherren haben diese Scheunen einfach in mehrere Wohnungen aufgeteilt, „und dann ist es um den historischen Wert natürlich geschehen“.
Mit der Vermietung von Ferienwohnungen hinter historischer Fassade ließe sich viel Geld generieren. Aber Ruch und seine Auftraggeber widerstehen dieser Versuchung: „Diesen Raum zu besitzen, ist eine Kostbarkeit. Den darf man nicht unterteilen“, fordert er, die Scheune sei die Lunge des Hauses, eine Sensation, „die man auch körperlich spüren kann“. Leicht zu erahnen, wie wenig Verständnis renditeorientierte Investoren und Makler besonders in St. Moritz für solche Argumente aufbringen.
Mit Denkmalpflege, Heimatschutzverein und archäologischem Dienst
Auf der Baustelle in der Chesa Petzi hat Vitor Santos inzwischen den neuen Mörtel angerührt. Mittels Spachtel klatscht er kleine, graue Putzklumpen auf die neue Gipsplatte und streicht die Masse glatt. Hans-Jörg Ruch steht daneben, beobachtet, und begutachtet schweigend den neuesten Putz-Entwurf. Dann macht er einen Schritt vorwärts und deutet darauf: „Mit dem wäre ich sehr zufrieden.“ Restaurator Ivano Rampa erwidert, er schwanke noch zwischen zwei Entwürfen, doch am Schluss müssten ja auch noch die Eigentümer zustimmen. Später wird Rampa sagen, er habe „Achtung“ vor Ruch, dieser sei „zielstrebig“, habe seine Vorstellungen, „aber auch zwei große Ohren. Er ist für sein Alter sehr offen“. Rampa und Ruch arbeiten seit einem Jahrzehnt zusammen. Einmal, sagt Rampa, hätten sie in dieser Zeit zusammen Mittag gegessen.
Erbe der Chesa Petzi ist eine Familie aus St. Gallen. Ostern 2019 hat Ruchs Team mit dem Umbau begonnen. Frühestens im Herbst 2020 wird alles fertig sein. So ein Umbau à la Ruch, bei dem schon die Wahl des Putzmörtels für eine Innenwand Tage in Anspruch nimmt, dauert nicht nur länger, sie ist in der Regel auch viel teurer als ein Neubau. Ruch lässt jedes Haus, das er umbauen will, dendrochronologisch untersuchen, das heißt, er lässt das Alter der Holzteile bestimmen. Er arbeitet mit der Denkmalpflege, dem Heimatschutzverein und dem archäologischen Dienst zusammen. Am Ende verschlingt so ein Projekt deshalb schon mal zweistellige Millionenbeträge.