
Um wieviel Uhr der berühmte Thomas Middelhoff frühstückt, was er mittags isst, wohin er geht, mit wem er spricht, wann er duscht, zu welcher Tageszeit er einen Spaziergang macht (und vor allem: wo!) – das und sehr vieles mehr bestimmt seit dem 14. November nicht mehr der berühmte Thomas Middelhoff selber, sondern der völlig unbekannte Alfred Doliwa.
Ein Mann wie Doliwa rangierte in der Werteskala des abgestürzten Management-Stars bisher weit unten. Ein Beamter des Landes Nordrhein-Westfalen, stellvertretender Leiter der JVA Essen – im bisherigen Kosmos des Bertelsmann- und Arcandor-Ex-Chefs Middelhoff vermutlich keine relevante Größe. Nun leitet Doliwa – weil in der JVA Essen die Stelle des Anstaltsleiters derzeit vakant ist – die JVA im netten Stadtteil Essen-Rüttenscheid und bestimmt über jede unfreie Minute im Leben des aktuell prominentesten Untersuchungshäftlings Deutschlands. Angeblich wird Middelhoffs Einzelzelle Tag und Nacht alle 15 Minuten überprüft – weil Doliwa offenbar Sorge hat, der Manager könnte sich unter seiner Obhut etwas antun.
Der Middelhoff-Prozess von A bis Z
Die Pleite des Arcandor-Konzerns (Karstadt, Quelle, Thomas Cook) im Jahr 2009 war einer der spektakulärsten Firmenzusammenbrüche der Nachkriegszeit. Thomas Middelhoff leitete das Unternehmen bis wenige Monate vor dessen Ende. Im Essener Prozess ging es aber nicht um die Pleite selbst, sondern „nur“ um den Verdacht, dass der Manager Arcandor Kosten in Höhe von 1,1 Millionen Euro zu Unrecht in Rechnung gestellt haben soll - vor allem für teure Flüge in Privatjets. Middelhoff weist diese Vorwürfe entschieden zurück.
Auslöser für die umfangreiche Nutzung von Privatjets war Middelhoff zufolge eine Bombendrohung gegen ein Linienflugzeug, in dem er gesessen hatte. Danach sei er aus Sicherheitsgründen auf Charterjets umgestiegen. Insgesamt nutzte Middelhoff in seiner Zeit bei Arcandor nach eigenen Angaben 610 Mal Privatjets. Er selbst habe 210 Flüge bezahlt, die übrigen 400 seien Arcandor in Rechnung gestellt worden. Im Prozess geht es allerdings nur um 48 dieser Flüge, bei denen die Staatsanwaltschaft die dienstliche Veranlassung bezweifelt. Deren Gesamtkosten beziffert die Anklage auf 945 000 Euro.
Thomas Middelhoffs sonst eher öffentlichkeitsscheue Ehefrau Cornelie erinnerte sich als Zeugin im Essener Prozess vor allem an die hohe Arbeitsbelastung ihres Mannes in der Arcandor-Zeit: „Er hat eigentlich immer gearbeitet, immer, immer.“
Dauerstau auf dem Weg zur Arbeit ist für viele Pendler ein Ärgernis - nicht aber für Middelhoff. Als eine Baustelle am Kamener Kreuz die Fahrt zwischen seinem Wohnsitz in Bielefeld und der Konzernzentrale in Essen zur stundenlangen Quälerei machte, stieg er auf Hubschrauber um. Die Rechnung ging an Arcandor. Zu Recht, findet Middelhoff: Er habe so nämlich effizienter arbeiten können. Zu Unrecht, findet die Anklage: Die Kosten für den Arbeitsweg seien Sache des Arbeitnehmers.
Ein weiterer Vorwurf der Anklage: 180 000 Euro habe Arcandor auf Veranlassung Middelhoffs für eine Festschrift zu Ehren des ehemaligen Bertelsmann-Chefs Mark Wössner spendiert. Für die Staatsanwaltschaft ist das Buch ein „persönliches Geschenk“ Middelhoffs an seinen früheren Mentor. Der Manager hätte demnach für das teure Präsent selbst zahlen müssen. Nach Middelhoffs Worten diente die Festschrift dagegen der Verbesserung des Arcandor-Images und der Netzwerkpflege.
Für Middelhoff wurden nach eigener Aussage vor allem die Besuche der Gerichtsvollzieher im Gerichtssaal zur Belastung. Sie nutzten die Gelegenheit, um den im südfranzösischen Saint-Tropez lebenden Manager mit Millionenforderungen seiner Gläubiger zu konfrontieren. In einem Fall pfändete ein Gerichtsvollzieher sogar eine wertvolle Armbanduhr. Die Pfändungsversuche seien demütigend, sagte Middelhoff selbst am Rande des Verfahrens: „Das ist wie ein apokalyptischer Traum.“
Zeitweise wurde das Verfahren in Essen von einem drohenden Haftbefehl gegen Middelhoff überschattet. Eine Gerichtsvollzieherin hatte diesen laut einem „Spiegel“-Bericht beantragt, um den Manager im Zusammenhang mit Zahlungsforderungen des Arcandor-Insolvenzverwalters zur Offenlegung seiner Vermögensverhältnisse zu zwingen. Das Thema erledigte sich nach Angaben der Middelhoff-Anwälte aber von selbst, als dessen Managerversicherung eine Haftungsgarantie für 3,4 Millionen Euro übernahm.
Seit dem 14. November weiß Middelhoff, was Freiheitsentzug tatsächlich bedeutet. Das Landgericht Essen hat den 61-Jährigen an diesem Tag zu einer überraschend harten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Wegen des drohenden Freiheitsentzugs und weil – unter anderem wegen seines französischen Wohnsitzes und wegen weiterer strafrechtlicher Ermittlungen – Fluchtgefahr besteht, schickte der Richter den frisch Verurteilten in die sofortige U-Haft. Ein Milieuwechsel sondergleichen. Fremdbestimmung in Maximalform. "Ich fand das unheimlich demütigend", sagt Kinowelt-Gründer Michael Kölmel über die zwei Tage, die er 2002 in Untersuchungshaft verbrachte.
Middelhoff lebt derzeit auf zehn Quadratmetern
Middelhoffs Hoffnung, sich so schnell wie Kölmel wieder frei im gewohnten Milieu von Villa, Fünf-Sterne-Hotel und Airport-Lounge zu bewegen, erfüllte sich nicht. Ein Haftprüfungstermin verlief erfolglos. Am 25. November haben Middelhoffs Anwälte Beschwerde eingelegt gegen die U-Haft.
Entscheiden darüber werden in Kürze die Oberlandesrichter in Hamm. Aus den ersten Tagen in der 10-Quadratmeter-Zelle wurde jedenfalls eine Woche, sind zwei Wochen geworden und können – vielleicht ist es Middelhoff inzwischen klar geworden – Monate werden, sogar Jahre.
Der Düsseldorfer Kunsthändler Helge Achenbach etwa sitzt seit dem 11. Juni wegen Betrugsverdacht in U-Haft – wie Middelhoff in der JVA Essen. Ein halbes Jahr – länger soll eine U-Haft eigentlich nicht dauern. Aber die Ausnahme wird gerade bei den komplizierten Wirtschaftsstrafsachen mit langen, aufwändigen Ermittlungsverfahren längst zur Regel.
Der frühere Internetstar Alexander Falk verbrachte vor seiner Verurteilung 2008 wegen Kursmanipulation 22 Monate in Hamburg in U-Haft. Bei Helmut Schelsky – dem Mann, der im Siemens-Auftrag und mit Siemens-Geld eine Scheingewerkschaft gegründet hatte – waren es 25 Monate, die er in der JVA Nürnberg verbrachte.
Freispruch nach langer U-Haft ist die Ausnahme
Vier Jahre Untersuchungshaft kamen auch schon vor: in den 1960er-Jahren bei einem später zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilten Finanzmakler und Autohändler. Und Ende der 1980er-Jahren bei einem Berliner Elektronik-Unternehmer, der wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe verdächtigt, aber nie verurteilt wurde.
Freispruch nach langer U-Haft ist die absolute Ausnahme und in jedem einzelnen Fall natürlich ein Justizskandal. Im Normalfall aber bestätigt sich der Verdacht, und es folgt eine Verurteilung zu einer Haftstrafe, die über die U-Haft-Dauer hinaus geht und mit dieser verrechnet wird. Rund 24.000 Mal im Jahr wird in Deutschland Untersuchungshaft angeordnet.