Stau in der Nordsee „Wir spielen Tetris mit Schiffen“

Vor dem Hamburger Hafen wartet auch ein Schiff der Reederei Hapag-Lloyd. Quelle: imago images

Vor den Häfen in Hamburg, Rotterdam und Antwerpen stauen sich die Containerriesen. Netzwerker wie Rajiv Ghose von Hapag-Lloyd versuchen, die Schiffe umzuleiten. Doch das ist problematischer, als es scheint.

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WirtschaftsWoche: Herr Ghose, knapp 100 Containerschiffe stauen sich seit Tagen in der Deutschen Bucht. Wie ernst ist die Lage?
Rajiv Ghose: Die Situation ist äußerst schwierig. Das Problem beginnt, sobald die Schiffe in die Seehäfen einfahren. Alle Container-Stellplätze sind belegt. Normalerweise steht ein Import-Container drei Tage im Lager, dann wird er weitertransportiert. Heute sind es sechs bis sieben Tage. Die Boxen stapeln sich überall. In Hamburg stehen Container jetzt auch auf dem Pufferlager.

Warum holt niemand die Boxen ab?
Die Häfen sind mit der Masse der ankommenden Schiffe einfach überfordert. Die Hafenarbeiter müssen all die Container löschen, die jetzt aus den USA, Asien und Südamerika reinfahren. Es kommt zu Transportproblemen, die Lagergebäude sind verstopft, viele Güterzüge sind für Lieferungen in die Ukraine reserviert. Dazu fehlen unseren Kunden Tausende von Arbeitern: Lageristen, Lkw-Fahrer, Zugführer. Die, die da sind, gehen in Urlaub oder bauen ihre Überstunden ab.

Rajiv Ghose

Und jetzt ruft Verdi zu Warnstreiks auf.
Ja, auch das. Zum Glück waren die Streiks am vergangenen Donnerstag nach vier Stunden vorbei.

Sie waren lange Zeit Schiffskapitän. Wie muss man sich gerade die Lage auf einem Containerschiff vorstellen?
Vor 30 Jahren, als ich noch zur See fuhr, hätte die Besatzung die langen Wartezeiten vor Anker für Wartungsarbeiten und zum Angeln genutzt. Auch heute ist die Situation für die Crew relativ einfach: Die können nur warten und hoffen, dass sie bald nach Hause kommen. Für die Schiffe hingegen ist es schädlich. Die sind nicht dafür gebaut, dass sie lange auf der Stelle stehen. Auf dem Rumpf setzen sich nach einigen Tagen Algen an und zersetzen das Metall. Deshalb müssen wir regelmäßig alles überprüfen, den Propeller reinigen, falls erforderlich. Und solange die Schiffe stehen, können sie nicht genutzt werden. Das treibt die Kosten.

Heißt es für die Reedereien also: Abwarten und Tee trinken?
Nicht ganz. Mein Team und ich versuchen mit Hochdruck, manche Schiffe in andere Häfen umzuleiten und Staus zu reduzieren. Erst kürzlich sollte ein Schiff der Far-East-Route in Hamburg einfahren. Dort war natürlich alles voll und wir schickten das Schiff nach Wilhelmshaven, wo noch ein Slot frei war.

Sie spielen also Tetris mit den Schiffen?
So in etwa. Die Praxis hat sich etabliert und heißt Change of Rotation.

Erzählen Sie, wie funktioniert das genau?
Normalerweise fahren die Schiffe nach bestimmten Routen. Sieben bis zehn Tage, bevor ein Schiff aufbricht, stimmen wir mit den Häfen ab, ob die reservierten Liegeplätze frei sind. Auf der Europaroute FE2 etwa sind das der Reihenfolge nach die Häfen in Southhampton, Le Havre, Hamburg und Rotterdam. Wenn der Hafen in Rotterdam sagt, sie haben am 18. Juni einen Slot frei und nicht am 20. und Southhampton andersherum, dann können wir den Swap einplanen – auch noch während sich das Schiff im Mittelmeer befindet. Wir hatten auch schon die Route Rotterdam-Southhampton und dann Hamburg. Auch wenn das viele Nautische Meilen Umweg sind, stand das Schiff statt 30 Tage in den Häfen, nur zwölf Tage – eine riesige Einsparung.

Welche Hilfsmittel nutzen Sie dazu?
Unsere Stauplaner nutzen Software, um Engpässe vorherzusagen. Auch sprechen wir viel mit den Häfen. Für einige Abweichungen haben wir auch Regeln eingeführt, die ganz gut funktionieren. Bei der Europa-Südamerika-Route machen wir das so: Wenn ein Schiff drei Tage später aus Le Havre in Frankreich ausfährt, schicken wir das nicht nach Caucedo in der Dominikanischen Republik, sondern direkt nach Cartagena in Kolumbien. Die Ladung von Cartagena „feedern“ wir dabei nach Caucedo. Das bedeutet, wir schicken kleinere Zulieferschiffe.

Lassen sich die Lieferketten denn so einfach umgestalten?
Das ist das Problem. Oft sind die regionalen Slots belegt. Wir versuchen dann, mit den Hafenbetreibern zu verhandeln, um vielleicht doch noch einen Slot freizustellen. Das klappt nicht immer. Auch sind die Häfen nicht für alle Schiffe ausgelegt. Die Anzahl der Löschbrücken, die nötig sind, damit ein Schiff schnell abgefertigt ist, variiert. Auch kann ein Schiff mit 20.000 TEU nicht überall gelöscht werden.

Lesen Sie auch: „2020 lag die Charterrate für ein Containerschiff bei 7000 Dollar am Tag. Jetzt sind es 50.000 Dollar“

Und wie ist das für die Kunden, wenn der Container zu einem anderen Hafen kommt?
Niemand in der Logistik liebt Veränderungen. Ein Rotationswechsel bedeutet viel Aufwand und Bürokratie. Hafenslots müssen neu verhandelt, Lagerplätze neu geplant, Lastwagen bestellt und Arbeiter informiert werden. Das ist für alle eine Menge Arbeit. Wenn die Kunden allerdings erfahren, dass sie die Ware schneller bekommen, ist ihnen die Mühe meistens wert.

Wie oft kommt es vor, dass Sie in den Ablauf eingreifen müssen?
Mittlerweile fast bei jedem Schiffstransport. Wir ändern nicht immer die komplette Route. Aber kleine Anpassungen gibt es fast immer. Der Standard heute ist: Es gibt keinen Standard. In den letzten zwei Jahren befanden sich Häfen wegen Corona teilweise oder ganz im Lockdown, die Katastrophe am Suezkanal hat bis heute Auswirkungen, der Krieg in der Ukraine – die Weltlage ist äußerst kompliziert.

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Welche Auswirkungen hat der Stau in der Deutschen Bucht für die kommenden Wochen?
Das ist schwer vorherzusehen. Im Hamburger Hafen wartet von uns seit Tagen ein Containerschiff darauf, die Ladung zu löschen. Zunächst war geplant, dass das Schiff am 13. Juni den Hafen verlässt. Jetzt ist es der 15. Wird das Datum wieder verschoben, müssen wir die Routen zum zweiten Mal teilweise umplanen. Und das ist nur ein Schiff. Allein in Nordeuropa sind es im Moment 16.

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