Aktionäre kritisieren Chefin Merz „Man fragt sich: Kann Thyssenkrupp überhaupt Stahl?“

Thyssenkrupp will bis 2050 klimaneutral werden. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg für Konzernchefin Martina Merz. Quelle: dpa

Kurzarbeit für die Belegschaft, Sonderzahlungen an den Vorstand – auf der Hauptversammlung musste Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz viel Kritik einstecken. Ein Jahr nach dem erfolgreichen Verkauf der Aufzugssparte ist die Top-Managerin mit dem Umbau in Verzug – außer beim Abbau von Stellen.

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Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz hat den Aktionären Hoffnung auf ein Ende der Krise und des Konzernumbaus gemacht. Mit der bevorstehenden Entscheidung zur Stahlsparte biege Thyssenkrupp bei der Neuausrichtung auf die Zielgerade ein, sagte Merz am Freitag auf der virtuellen Hauptversammlung des Konzerns. Der Umbau werde sich aber nicht von heute auf morgen in den Ergebniszahlen niederschlagen. Der seit Jahren kriselnde Traditionskonzern will etwa in der Umwelttechnik punkten. Doch wie das Ergebnis konkret ausfällt, werden die Aktionäre des Esseners Konzerns erst am 10. Februar erfahren. Erst dann liefert Merz die Zahlen für die ersten drei Monate des laufenden Geschäftsjahres.

Die unzufriedenen Aktionäre kann Merz mit solchen weichen News sowieso nicht besänftigen. „Die zukünftige Strategie von Thyssenkrupp ist eher eine Blackbox als ein Fels in der Brandung“, sagt Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei Deka Investments. „Die Zukunft des Stahls ist ungewiss, die Ausbaupläne der Zukunftstechnologie Wasserstoff sind nebulös und die Unternehmenseinheiten im neuen Segment Multi Tracks sind auf Käufersuche“, sagt Speich. Bisher habe Merz zwar Entschlossenheit und Expertise bei der Restrukturierung des Essener Traditionskonzerns bewiesen. Jetzt müssten wegweisende Entscheidungen beim Stahl und bei der Wasserstoffstrategie folgen. „Der Vorstand muss handeln und darf nicht zum Ankündigungsweltmeister mutieren“, fordert Deka-Investments-Manager Speich.

Thyssenkrupp befinde sich nach wie vor in einer gewaltigen Transformation, sagt Katja Nagel, Geschäftsführerin des Beratungsunternehmens Cetacea aus München. „Das Restrukturierungsprogramm scheint zwar zu greifen und der Konzern steht besser da als vor einem Jahr. Aber die Unsicherheit über eine erfolgreiche Zukunft ist gewaltig, intern wie extern“, sagt Nagel.

Merz will 11.000 Stellen bei Thyssenkrupp streichen

Tatsächlich ist Vorstandschefin Merz im vergangenen Jahr mit dem Umbau des Konzerns strategisch nicht sehr weit gekommen. Vor einem Jahr verkaufte die Vorstandschefin zwar erfolgreich für rund 17 Milliarden Euro die Aufzugssparte an ein Konsortium aus Finanzinvestoren. Dann kam Corona. Die Pandemie hat den angeschlagenen Essener Industriekonzern schwer getroffen und den Umbau erschwert. Sogar der Ruf nach Staatshilfe erschallte. Und für die Arbeitnehmer ist eine staatliche Beteiligung beim Stahl auch noch längst nicht vom Tisch. Und was aus all den Geschäften wird, die Merz in die neue Sparte „Multi Tracks“ gepackt hat, die entweder verkauft, geschlossen oder saniert werden sollen, ist unklar.

von Angela Hennersdorf, Hannah Krolle, Bert Losse, Andreas Macho, Annina Reimann, Martin Seiwert

Nur beim Abbau von Jobs ist die Vorstandschefin vorangekommen. Bis Ende Dezember 2020 seien knapp über 4000 der angekündigten 11.000 Stellen abgebaut worden. Mit den Arbeitnehmervertretern habe Thyssenkrupp dazu sozialverträgliche Regelungen getroffen. „Der Personalabbau ist sehr schmerzhaft für uns alle. Für eine erfolgreiche Zukunft von Thyssenkrupp sind diese Maßnahmen aber unvermeidlich“, schreibt die Vorstandschefin in ihrer Rede für die Aktionäre, die bereits veröffentlicht ist. Mit den Einsparungen und dem Umbau des Unternehmens will Merz bis Ende September dieses Jahres ein positives Ergebnis im niedrigen bis mittleren dreistelligen Millionenbereich schaffen.

Ungewisse Zukunft für das Herz des Konzerns – den Stahl

Im März will die Konzernchefin endlich entscheiden, wie es mit dem Stahl, dem Herz des Industriekonzerns, weitergehen soll. Im vergangenen Geschäftsjahr schrieb die Stahlsparte einen Verlust von fast einer Milliarde Euro. „Die Stahlsparte hat sich zu einem Schatten ihrer selbst entwickelt“, sagt Speich von Deka-Investment. Im europäischen Wettbewerb sei die Stahlsparte operativ am schlechtesten aufgestellt. „Man fragt sich: Kann Thyssenkrupp überhaupt Stahl“, kritisiert Speich. Tatsächlich rächen sich jetzt die ausgebliebenen Investitionen in das Stahlgeschäft. 

So geht auch der mögliche Käufer des Stahlgeschäfts, der britische Konkurrent Liberty Steel, für das Stahlgeschäft der Essener von einem negativen Eigenkapitalwert von mindestens 1,5 Milliarden Euro aus, das berichten jedenfalls Insider der Nachrichtenagentur „Bloomberg“. Im Januar legten die Briten ein aktualisiertes Angebot für die Stahlsparte von Thyssenkrupp vor. Liberty Steel fordert darin Thyssenkrupp auf, Kapital zur Deckung von Verbindlichkeiten einschließlich eines Pensionsdefizits von rund vier Milliarden Euro mit ein zu bringen.

Thyssenkrupp prüfe die Offerte von Liberty für das Stahlgeschäft und sehe bei einigen Themen noch Klärungsbedarf, heißt es dazu in Essen. Für die Arbeitnehmervertreter kommt ein Verkauf ohne ein finanzielles und zukunftsfähiges Konzept von Liberty Steel für das Stahlgeschäft von Thyssenkrupp überhaupt nicht in Frage. 

Liberty Steel gehört zur GFG Alliance, einem losen Komplex von Unternehmen, die Familienmitgliedern des britisch-indischen Industriemagnaten Sanjeev Gupta gehören. Gupta ist vor allem mit dem Kauf von angeschlagenen Stahlkonzernen in Europa aufgefallen und groß geworden. In Essen ist längst wieder die Rede davon, Thyssenkrupp könne das Stahlgeschäft auch behalten, restrukturieren und später möglicherweise ausgliedern. Doch dazu braucht der Konzern Kapital, das er nicht hat. Eine Sanierung der Stahlsparte aus eigener Kraft ist sicher eine Herkulesaufgabe, meint Nagel vom Beraterhaus Cetacea. „Der Berg an Baustellen wird nicht kleiner. Wenn sich aber die Wirtschaftslage bessert und die Auftragslage anzieht, dürfte besonders der Stahl profitieren.“

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Aber für den Umbau zu einer klimaneutralen Stahlproduktion mit Hilfe von Wasserstoff muss der Konzern Milliarden investieren. Ohne staatliche Hilfe oder einen starken Partner sind die nicht zu stemmen. Immerhin habe man nun in Duisburg die erste Phase der Wasserstoffversuche an einem Hochofen erfolgreich abgeschlossen. Demnächst soll die Technologie in den industriellen Großeinsatz übertragen werden.  Demnächst? Das kann noch Jahre dauern. 

Trotzdem sei Wasserstoff der einzig wirkliche Leuchtturm bei Thyssenkrupp, sagt Deka-Mann Speich und fordert eine fokussierte Wasserstofftechnologie. „Der Stahlbereich darf nicht der Bremsklotz für den Wasserstoff sein.“ Die Neubewertung der Thyssenkrupp-Aktie hänge von der Wasserstoff-Fantasie ab.

Das scheint auch der Plan von Konzernchefin Merz zu sein. Auf der Hauptversammlung kündigte sie an: „Wir werden insbesondere unsere Position bei Greentech-Produkten kontinuierlich ausbauen“, kündigte Merz an. Dazu gehörten etwa Wälzlager für die Windindustrie oder Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff. Im Wasserstoffgeschäft prüfe der Konzern, ob er dies alleine oder mit Partnern vorantreiben werde. „Unsere Elektrolyse-Anlagen erzeugen grünen Wasserstoff in großem Stil. Windräder weltweit drehen sich durch unsere Großwälzlager.“ Die Autokomponenten kämen in der E-Mobilität sowie beim automatisierten Fahren zum Einsatz.

Doch was bleibt übrig von Thyssenkrupp, wenn der Stahl entweder verkauft oder ausgegliedert ist? „Wohin will Konzernchefin Merz strategisch eigentlich hin“, fragt Deka-Mann Speich. Eine Antwort konnte Merz auf dem Aktionärstreffen kaum geben.

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Mit Material von Reuters.

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