China Ein Abend mit dem früheren Staatspräsidenten: Mit Jiang Zemin im Biergarten

Präsident Jiang Zemin und Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 in Bonn Quelle: imago images

Der vor wenigen Tagen verstorbene Jiang Zemin gilt als „letzter Reformer“ Chinas. Der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer erinnert sich an einen Abend mit dem damaligen Staatspräsidenten. Ein Gastbeitrag.

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Der vor wenigen Tagen verstorbene, frühere chinesische Staatspräsident Jiang Zemin war nicht gerade als umgänglicher Gesprächspartner bekannt, als er im Juli 1995 zu einem Staatsbesuch zuerst in Bonn und dann zu einem Abstecher in München erschien. Zu den ausgesuchten Gastgebern in der bayerischen Landeshauptstadt zählte wie immer bei solchen Gelegenheiten auch Siemens

Wir wollten nicht wieder das übliche Abendessen mit mehr oder weniger seichten Reden und einem Drei-Gang-Menü (bitte kein Steak und schon gar nicht medium rare) bieten. Da hatte ein china-erfahrener Mitarbeiter den zündenden, aber auch mutigen Einfall: Wir laden in den Biergarten nach Neukeferloh a bisserl außerhalb von München ein: Mit Schweinshaxen, großen Maßkrügen mit Bier, Radis, Schuhplattler und zünftiger Blasmusik, also zu einem bayerischen Abend. Sogar Alphörner hatten wir aufgeboten. 

Von Besuchen beim Staatspräsidenten in Peking wusste ich, dass er Gespräche regelmäßig mit einem Recourse auf Hegel eröffnet, wobei ich durch zielgerichtete Vorbereitung mit meinen Antworten einigermaßen bestehen konnte. Doch diesmal kam es anders. Von einem von uns engagierten Musiker wurde unser Gast zusammen mit den wichtigsten Mitgliedern seiner Entourage und dem auch anwesenden bayerischen Wirtschaftsminister Otto Wiesheu auf die kleine Bühne gebeten, ich durfte auch mitmachen. Jeder von uns bekam eine kleine oder größere Glocke mit unterschiedlicher Tonlage in die Hand, Jiang Zemin natürlich die größte. Und dann ging’s los. Auf Kommando des Dirigenten musste jeder von uns mit der Glocke bimmeln. Und man glaubt es kaum, unsere Laienspielerschar schaffte es, dank des aufopferungsvollen Einsatzes des professionellen Musikers, tatsächlich eine Melodie zu erzeugen, die man bei gutem Willen als Schneewalzer erkennen konnte. 

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Die mitgereisten Chinesen und, ehrlich gesagt wir auch, konnten es kaum fassen, mit welcher Lockerheit und Fröhlichkeit ihr durchaus für seine Strenge bekannter Boss auf der Bühne stand und gar nicht aufhören wollte, die Glocke zu schwingen. Aber das muntere Spiel wurde jäh unterbrochen, als Donner und Blitz eines typischen, heftigen oberbayerischen Gewitters immer näher kamen. Noch vielleicht für zwei Stunden in einen unwirtlichen Saal des Gasthofs flüchten, dort ausharren und die Stimmung verderben, oder ein schneller, leider dann hastiger Aufbruch ins Hotel, das war die Frage? Das „Protokoll“ ohnehin schon etwas aus dem Tritt, weil der Abend zeitlich bereits aus den Fugen geraten war, wie schrecklich für ein durchgetaktetes Protokoll, plädierte für Letzteres.

Also schnellen Schrittes zu den bereitstehenden schweren Karossen der bayerischen Edelmarke. Die Karawane setzte sich in Bewegung, begleitet von der üblichen Polizeieskorte mutiger Motorradfahrer und an ihren langen, unter den Helmen hervorlugenden Pferdeschwänzen erkennbaren Motorradfahrerinnen; denn mutig mussten sie schon sein, sie fuhren nämlich mitten in das Gewitter hinein. (Kleine, aber notwendige Anmerkung: Niemand kam zu Schaden.)

Doch bevor die chinesischen Gäste alle in den Autos Platz gefunden hatten, passierte noch etwas Unerwartetes: Madame Wu Yi, so wurde die Ministerin respektvoll genannt, die als Einzige die chinesische Frauenquote in der obersten Liga der Entscheider etwas verbesserte, nahm mich kurz zur Seite, bedankte sich für den gelungenen Abend, wenn der Präsident ungewohnte Glücksgefühle gezeigt hatte, waren auch alle anderen glücklich, und sagte zu mir, wenn ich einmal in China Wünsche hätte, solle ich mich melden. So ein Angebot hatte noch keiner von uns bekommen! 

Das war, wie sich schnell herausstellte, aber eine absolute Sternstunde. Ich hatte schon bald Gelegenheit, die Ernsthaftigkeit dieser wirklich seltenen Geste zu testen. 

Im Vorfeld des anstehenden Gegenbesuchs von Helmut Kohl brach auf der Seite der in China aktiven deutschen Unternehmen wieder die ganz normale Hektik aus. Jeder wollte gerne noch ein Projekt für die übliche feierliche Unterschriftszeremonie in der Großen Halle des Volkes vorbereiten, bei der die Staatsmänner beider Seiten traditionell die Kulisse abgaben. Dass dabei auch unverbindliche Absichtserklärungen als großer Erfolg präsentiert wurden, von denen später keiner mehr hörte, wurde hingenommen. Die aufaddierten Vertragssummen mussten nur hoch sein und sich politisch gut verkaufen lassen. Und schon aus Gründen des Prestiges durfte Siemens nicht fehlen.

Unser Team hatte mit großem Elan über ein Kohlekraftwerk in Rizhao, das liegt im Osten von China in der Provinz Shandong, verhandelt. Eine Anlage mit 700 Megawatt und der Besonderheit, dass Siemens nicht nur für die Errichtung verantwortlich war, sondern auch für eine gewisse Zeit mit einem Anteil am Kraftwerk beteiligt blieb. Am späten Nachmittag vor dem großen Tag in der Großen Halle sickerte durch, unser Projekt war nicht unterschriftsreif. Wir würden am nächsten Vormittag düpiert dastehen und leer ausgehen. Das Siemensprojekt fehlte in der vorbereiteten Unterschriftsmappe.

 Ich versuchte unverzüglich über Mittelsmänner mit Madame Wu Yi Kontakt aufzunehmen. Und das gelang. Kurz vor Mitternacht erhielt ich im Hotelzimmer einen Anruf: Unsere Mannschaft solle sofort zur abschließenden Verhandlung erscheinen, und das mitten in der Nacht. Das geschah, und am nächsten Morgen konnte ich in Anwesenheit einer lächelnden Ministerin den Millionenvertrag über das Kraftwerk unterschreiben. Madame Wu Yi, die später bei der Bewältigung der SARS-Krise eine herausragende Rolle spielte, hatte Wort gehalten.

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Von Jiang Zemin hieß es, er habe nach seiner Tour, die ihn noch in andere europäische Länder führte, geäußert, den nachhaltigsten Eindruck von allen Terminen auf seiner Reise habe bei ihm der Abend im bayerischen Biergarten hinterlassen. Auch große Staatsmänner sind eben nur Menschen!

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