Konjunktur Die Stagflation kommt nicht. Sie hat schon begonnen!

Nouriel Roubini Quelle: Bloomberg

Der Krisenökonom Nouriel Roubini warnt davor, die aktuell steigenden Inflationsraten zu unterschätzen und als temporäres Phänomen abzutun. In einem Gastbeitrag für die WirtschaftsWoche entwirft er ein mögliches Negativszenario für die Wirtschaftswelt von morgen.

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Nouriel Roubini („Dr. Doom“) zählt zu den streitbarsten Ökonomen der USA. Er ist Professor an der zur New York University gehörenden Stern School of Business und CEO des Beratungsunternehmens Roubini Macro Associates.

Ich warne bereits seit Monaten, dass die derzeitige Mischung aus lockerer Geld-, Kredit- und Fiskalpolitik die Gesamtnachfrage übermäßig ankurbelt und zu einer inflationären Überhitzung zu führen droht. Verschärft wird das Problem dadurch, dass mittelfristige negative Nachfrageschocks das potenzielle Wachstum verringern und die Produktionskosten steigern könnten. Zusammengenommen kann diese Nachfrage- und Angebotsdynamik zu einer Stagflation - steigende Inflation inmitten einer Rezession - im Stil der 1970er Jahre führen und letztlich eine schwere Schuldenkrise bewirken.

Bis vor Kurzem habe ich mich stärker auf mittelfristige Risiken konzentriert. Nun jedoch lässt sich argumentieren, dass bereits eine „milde“ Stagflation im Gange ist. In den USA und vielen anderen hochentwickelten Ländern steigt die Inflation, und das Wachstum verlangsamt sich trotz massiver geld-, kredit- und fiskalischer Impulse deutlich.

Es gibt inzwischen einen Konsens, dass die Wachstumsverlangsamung in den USA, China, Europa und anderen wichtigen Volkswirtschaften das Resultat von Angebotsverknappungen auf den Arbeits- und Warenmärkten ist. Die optimistische Interpretation von Wall-Street-Analysten und Politik lautet, dass diese milde Stagflation vorübergehender Art sei und nur solange andauern werde, wie sich diese Angebotsverknappungen fortsetzen.

Tatsächlich liegen der Mini-Stagflation dieses Sommers gleich mehrere Faktoren zugrunde. Zunächst einmal treibt die derzeit grassierende Delta-Variante vorübergehend die Produktionskosten in die Höhe, verringert das Produktionswachstum und begrenzt das Angebot an Arbeitskräften. Viele Arbeiternehmer, von denen in den USA viele noch immer die im September auslaufende erhöhte Arbeitslosenhilfe beziehen, zögern insbesondere wegen Delta, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Und wer Kinder hat, muss womöglich aufgrund von Schulschließungen und dem Mangel an bezahlbarer Kinderbetreuung zu Hause bleiben.



Was die Produktion angeht, so beeinträchtigt die Delta-Variante die neuerliche Öffnung vieler Dienstleistungssektoren und streut Sand ins Getriebe der globalen Lieferketten, Häfen und Logistiksysteme. Der Mangel an wichtigen Vorleistungsgütern wie Halbleitern behindert darüber hinaus die Produktion von Autos, Elektronikartikeln und anderen langlebigen Konsumgütern zusätzlich – und befeuert die Inflation.

Trotzdem beharren die Optimisten darauf, dass all dies vorübergehend sei. Sobald Delta an Kraft verliere und die Sozialleistungen ausliefen, würden die Menschen auf den Arbeitsmarkt zurückkehren und Produktionsengpässe verschwinden. Das Produktionswachstum würde sich beschleunigen und die Kerninflation, die in den USA inzwischen fast vier Prozent beträgt, bis zum nächsten Jahr wieder auf den Zielwert der US Federal Reserve von zwei Prozent fallen.

Bei der Nachfrage wiederum wird angenommen, dass die Fed und andere Notenbanken anfangen werden, ihre unkonventionelle Geldpolitik zurückzufahren ¬ was die Risiken einer Überhitzung verringern und die Inflation im Zaum halten könnte. Die heutige milde Stagflation würde dann im nächsten Jahr einer glücklichen Goldlöckchen-Wirtschaft mit höherem Wachstum und niedrigerer Inflation weichen.

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Was aber, wenn sich diese optimistische Sicht als falsch erweist und der stagflationäre Druck über dieses Jahr hinaus anhält? Man sollte bedenken, dass verschiedene Messgrößen für die Inflation nicht nur deutlich über ihren Zielwerten liegen, sondern sich zudem verfestigen. So dürfte in den USA die Kerninflation, welche die volatilen Lebensmittel- und Energiepreise ausklammert, zum Jahresende noch immer bei fast vier Prozent liegen. Die makroökonomische Politik dürfte angesichts der von der Biden-Regierung geplanten Konjunkturmaßnahmen und der Wahrscheinlichkeit, dass die schwachen Volkswirtschaften des Euroraums auch 2022 hohe Defizite aufweisen werden, ebenfalls expansiv bleiben. Die Europäische Zentralbank und die Notenbanken vieler anderer hochentwickelter Volkswirtschaften halten nach wie vor uneingeschränkt an einer langfristigen Fortsetzung ihrer unkonventionellen Politik fest.

Obwohl die Fed derzeit erwägt, die quantitative Lockerung zurückzufahren, dürfte sie weiterhin eine akkommodierende Politik verfolgen, die der Gesamtentwicklung hinterherhinkt. Wie die meisten Notenbanken wurde sie durch die steile Zunahme privater und öffentlicher Schulden in den vergangenen Jahren in eine „Schuldenfalle“ gelockt. Selbst wenn die Inflation weiterhin über dem Zielwert liegt, würde ein zu schneller Ausstieg aus der quantitativen Lockerung zu einem Crash an den Renten- Kredit- und Aktienmärkten führen. Das würde die Wirtschaft einer harten Landung aussetzen und die Fed potenziell zwingen, auf Gegenkurs zu gehen und die quantitative Lockerung wieder aufzunehmen.

So war das bereits im vierten Quartal 2018 und ersten Quartal 2019, als die Fed letztmalig versucht hatte, die Zinsen anzuheben und die quantitative Lockerung zurückzufahren. Die Kredit- und Aktienmärkte brachen daraufhin ein, und die Fed setzte ihre Maßnahmen zur Straffung der Geldpolitik aus. Als sich die US-Konjunktur ein paar Monate später handelskriegsbedingt verlangsamte und es zu einer leichten Liquiditätsverknappung am Repomarkt kam, kehrte die Fed komplett zu Zinssenkungen und einer quantitativen Lockerung (durch die Hintertür) zurück.

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All dies passierte ein volles Jahr, bevor Covid-19 der Volkswirtschaft eine Breitseite verpasste und die Fed und andere Notenbanken zu einer beispiellosen unkonventionellen Geldpolitik motivierte, während die Regierungen die größten Haushaltsdefizite seit der Großen Depression aufbauten. Der wahre Test für die Standfestigkeit der Fed wird kommen, wenn die Märkte inmitten eines Konjunkturrückgangs und hoher Inflation eine Erschütterung erleiden. Höchstwahrscheinlich wird die Fed dann die Nerven verlieren und erneut einknicken.

Wie ich bereits früher argumentiert habe, dürften sich mittel- bis langfristig negative Angebotsschocks fortsetzen. Mindestens neun sind bereits erkennbar. Zunächst einmal sind da der Trend hin zur Entglobalisierung und zu einem zunehmenden Protektionismus, die Verkürzung von Lieferketten und die ungünstige Demografie in den hochentwickelten Ländern und wichtigen Schwellenmärkten. Hohe Einwanderungshürden behindern die Migration aus dem armen globalen Süden in den reicheren Norden. Der Kalte Krieg zwischen China und den USA, der gerade erst begonnen hat, droht die Weltwirtschaft zu fragmentieren. Und der Klimawandel führt schon jetzt zu Verwerfungen in der Landwirtschaft und verursacht Preisspitzen bei Lebensmitteln.

Darüber hinaus werden fortgesetzte globale Pandemien unweigerlich zu mehr nationaler Eigenständigkeit und zu Exportkontrollen für wichtige Waren und Werkstoffe führen. Die Cyberkriegsführung destabilisiert die Produktion zunehmend; sie unter Kontrolle zu bringen bleibt jedoch sehr kostspielig. Die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen treibt die Fiskal- und Regulierungsbehörden zur Umsetzung einer Politik, die die Macht der Arbeitnehmer und Gewerkschaften stärkt, was die Bühne für ein beschleunigtes Lohnwachstum bereitet.

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Während diese negativen Angebotsschocks das potenzielle Wachstum zu verringern drohen, könnte eine fortgesetzte lockere Geld- und Fiskalpolitik die Inflationserwartungen erhöhen. Dann droht eine Lohn-Preis-Spirale, die mittelfristig ein stagflationäres Umfeld erzeugt – und zwar eines, das gefährlicher ist als in den 1970er Jahren, als die Schuldenquoten niedriger waren als heute. Keine Frage: Das Risiko einer stagflationären Schuldenkrise wird bis auf Weiteres zu unserem konjunkturellen Wegbegleiter.

Copyright: Project Syndicate

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