Arbeitszeit reduzieren So funktioniert die 4-Tage-Woche in Island

Quelle: imago images

Bislang galt: Maschinen machen Menschen arbeitslos. Doch was, wenn stattdessen einfach alle etwas weniger arbeiten? Ein Blick nach Island zeigt: Wer es richtig anstellt, macht Angestellte glücklicher und produktiver.

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Schon der Ökonom John Maynard Keynes beschäftigte sich mit der Frage, wie wir die drohende Massenarbeitslosigkeit durch die Digitalisierung verhindern können. Sein Vorschlag, formuliert 1930, mit Blick auf die nächsten 100 Jahre: „Wir sollten die Arbeit, die es noch gibt, möglichst breit verteilen. Drei-Stunden-Schichten und Fünfzehn-Stunden-Arbeitswochen könnten das Problem für eine ganze Weile beseitigen.“

Die Isländer haben dies nun in die Tat umgesetzt: „Wir wollen den Menschen ermöglichen, weniger zu arbeiten“, sagt Gudmundur Haraldsson, Autor einer Studie, für die untersucht wurde, ob sich die Arbeitszeit um fünf Stunden verkürzen lässt, ohne dass am Ende weniger Arbeit erledigt wird oder zusätzliche Angestellte nötig sind. Das mittelfristige Ziel des Thinktanks Alda, der die Studie gemeinsam mit Autonomy UK veröffentlicht hat, liegt bei einer Wochenarbeitszeit von 32 Stunden - der Vier-Tage-Woche. „Aber wir wollen die Arbeitszeit danach noch weiter reduzieren“, sagt Haraldsson. Er könnte Keynes' Vision wahr werden lassen – und ein Blick auf die Ergebnisse seines in Island durchgeführten Experiments wirft einen ganz neuen Blick auf die Chancen der Digitalisierung.

Bislang galten die neuen Technologien als Arbeitsplatzvernichter. Gerade Berufe, die auf Informationsverarbeitung beruhen, etwa in der Buchhaltung, bei Kundenservice- und anderen Callcentern oder bei der Prüfung von Maschinen, könnten bald größtenteils wegfallen. Davor warnten Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee schon 2011 in ihrem Buch „Race Against the Machine“: Diese Tätigkeiten würden Maschinen bald schlicht besser erledigen. Profitieren aber, so schlussfolgerten die Ökonomen, würden davon vor allem jene, die die Maschinen und Algorithmen besitzen, die diesen Job dann übernehmen. Die Digitalisierung würde also die soziale Spaltung vorantreiben, statt für eine bessere Work-Life-Balance zu sorgen. Haraldssons Modellversuch zeigt nun, wie es anders gehen könnte: über Reorganisation, Arbeitszeitverkürzung – und entschlossenes politisches Handeln.

Island hatte ein klares Problem: mangelnde Produktivität. Noch 2017 lag in dem am dünnsten besiedelten Land Europas zwar die Arbeitslosenquote mit 3,4 Prozent weit unter dem OECD-Durchschnitt. 87 Prozent der erwachsenen Isländer waren berufstätig, der höchste Wert der OECD, das Pro-Kopf-Einkommen lag bei fast 47.000 US-Dollar und damit über den anderen nordischen Ländern. Doch beim Pro-Kopf-Einkommen pro geleisteter Arbeitsstunde lag Island mit 55,4 Dollar deutlich hinter den anderen nordischen Ländern. Der Grund: die in Island üblichen langen Arbeitszeiten von durchschnittlich 44,4 Stunden pro Woche in Vollzeittätigkeiten.

Das führt zu Stress und Ermüdung. Und wer gestresst und müde ist, braucht wiederum länger für seine Arbeit. Ein Teufelskreis, den der Modellversuch durchbrechen sollte. Wichtig war dabei, dass weiterhin die gleiche Arbeit von der gleichen Zahl an Angestellten erledigt wird, bloß eben in weniger Zeit.

Weniger Arbeit für das gleiche Geld

Der Versuch begann 2015 mit 66 Angestellten in der isländischen Hauptstadt Reykjavík. Die Erfolge waren jedoch so durchschlagend, dass auch ein landesweiter zweiter Versuch gestartet wurde. Insgesamt nahmen bis 2020 über 2500 Angestellte daran teil, also 1,3 Prozent der Berufstätigen des Landes. Gegen Ende der Studien verhandelten die Gewerkschaftsverbände bereits Anschlussverträge. Heute haben 86 Prozent der Isländer einen Rechtsanspruch auf die verminderte Arbeitszeit von 35 bis 36 Stunden – im Pflege-Schichtdienst sind es sogar nur 32.

Die Arbeitnehmer machten dabei keinesfalls mehr Überstunden als zuvor, die gesamte Arbeitsleistung stieg vielerorts gleichzeitig leicht an. Und damit auch das Wohlbefinden der Beschäftigten, die mehr Zeit für ihre Familien und Hobbys hatten. Wie war das möglich? „Die beste Strategie ist das Überarbeiten der Arbeitsprozesse“, schlussfolgert Haraldsson. „Was sind die konkreten Aufgaben? Können sie geändert, umverteilt oder gleich komplett übersprungen werden?“ In einem Kindergarten etwa stellte sich heraus: Gegen Nachmittag, wenn die Kinder nach und nach abgeholt werden, wird schrittweise auch weniger Personal benötigt. So konnten die Angestellte abwechselnd an einigen Tagen früher gehen.



Auch ein Umplanen des Maximalbedarfs an Personal hilft weiter: Die aufwändigste Betreuung brauchen die Kinder beim Mittagessen. Essen sie nun in Gruppen nacheinander, sinkt der Gesamtbedarf und schafft Platz für reduzierte Arbeitszeiten. Das lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen.

Ein typisches Berufsfeld, in dem mit der Digitalisierung ein hoher Stellenabbau befürchtet wird, ist der Kundenservice. Viele Anfragen können inzwischen von automatisierten Chatbots beantwortet werden. Es muss nicht immer ein Mensch sein, der am Telefon fragt, ob man die „Häufig gestellte Fragen“-Seite schon aufgerufen oder das Gerät aus- und wieder angeschaltet habe. Dennoch müssen hier immer auch Menschen im Hintergrund arbeiten und kompliziertere Anfragen bearbeiten. Auch, wenn sie dabei inzwischen oft erneut von Künstlicher Intelligenz unterstützt werden: Große Teile der nötigen Personalstunden lassen sich einsparen, aber die Maschinen können den Menschen für einen brauchbaren Kundenservice vorerst nicht verdrängen.

Das ist ein ideales Szenario für die menschenorientierte Reduktion der Arbeitszeit. Es ist schlicht weniger Arbeit nötig, um den gleichen Service anzubieten. Zeit, die die Angestellten nutzen könnten, um sie mit ihrer Familie zu verbringen, Hobbys nachzugehen oder sich weiterzubilden. Um dann innerhalb der Arbeitszeit den Kunden einen umso besseren Service zu bieten.

Digitalisierung = Massenarbeitslosigkeit?

Doch die Realität in den meisten Ländern sieht anders aus: Der Einsatz von mehr Maschinen ist für die meisten Arbeitgeber vor allem ein Mittel, um die Lohnkosten zu senken. Ein Teil der Belegschaft wird entlassen, die Arbeit von weniger Vollzeitkräften erledigt. Seltener gibt es Modelle, in denen Angestellte gemeinsam ihre Arbeitszeit reduzieren, um die Stelle einer Kollegin oder eines Kollegen zu erhalten. Vor allem weil die wenigsten bereit sind, die damit verbundenen Lohnverluste hinzunehmen. Und eine Arbeitsstundenreduzierung bei vollem Lohnausgleich widerspricht wiederum der Logik der Arbeitgeber.

Für Haraldsson muss die Gesamtgesellschaft einen Konsens finden, in dem auch die Interessen der arbeitenden Bevölkerung ausreichend Beachtung finden. Dafür brauche es entschlossenes politisches Handeln, um die Entscheidung über die Zukunft der Arbeitswelt nicht allein in der Hand der Arbeitgeber zu belassen. Denn sie werden ihre finanziellen Vorteile kaum einfach aufgeben, um die soziale Spaltung aufzuhalten.

Da die Politik keine Anzeichen einer tieferen Einsicht in die Bedeutung neuer Technologien für die Zukunft der Arbeit zeigt, läge die Verantwortung bei den Arbeitnehmervertretern, dafür eine Öffentlichkeit zu schaffen. „Wir brauchen eine öffentliche Diskussion mit allen Vertretern und müssen einen Konsens finden, mit dem alle Interessen berücksichtigt werden. Die Gewerkschaften müssen sich in diese Diskussion einschalten und zeigen, dass es ihr Recht ist, auch Vorteile aus den neuen Technologien zu ziehen.“ Was in Unternehmen geschehe, unterliege erstmal nur dem Willen der Eigentümer. Doch wenn es um derlei weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen gehe, müsse die Macht der Unternehmer begrenzt werden. „Unternehmensbesitzer sollten nicht über die Verteilung des Wohlstands und der Vorteile neuer Technologien in der Gesamtgesellschaft entscheiden.“

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