Werner Knallhart
Werden wir nach Corona je wieder gleichgültig vom Buffet essen? Quelle: imago images

Aerosol-Ekel: Essen wir jemals wieder vom Buffet?

Wir pusten beim Reden Aerosole in die Umwelt. Wer am Buffet fragt: „Willst du eine Scheibe Schinken?“, besprüht im blödesten Fall das Essen dutzender Gäste mit Keimen. Werden wir nach Corona je wieder gleichgültig essen?

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Wo sind unsere Erkältungen geblieben? Also bei mir läuft die Nase nicht den kleinsten Tropfen. Kein Halskratzen, kein dezenter Reizhusten passend zur Saison. Null. Den ersten Winter meines Lebens ohne den leichtesten Infekt. Und ich kenne viele, vor allem die ohne kleine Kinder, denen es ganz genauso geht. Was an Toilettenpapier mehr verkauft wurde, geht nun bestimmt an Taschentuch-Umsatz flöten.

Unsere Gesellschaft hat ein neues Level an Alltagshygiene erreicht. Wir waschen gewissenhafter unsere Hände, fummeln nicht mehr so oft im Gesicht herum. Und vor allem: Wir sind auf Aerosol-Diät. Eingeatmet wird im Wesentlichen nur noch, was in der Familie oder in überforderten Firmen unter Kollegen ohne Maske ausgeatmet wird.

Aber wenn wir alle alles richtig machen, dann reduziert die FFP2 die Aerosole um 95 Prozent. Bei jedem. Heißt: Wir atmen nur noch fünf Prozent der fünf Prozent der Aerosole des Anderen ein. Das sind – mein Gott, was sind das? Also dann ja nur noch 0,25 Prozent der Aerosole, die wir uns früher ohne Masken so reingezogen haben.

99,75 Prozent weniger. Kommen Sie, da kann man nichts sagen!

Noch beeindruckender wird es, wenn wir überlegen, wieviel Prozent MEHR an Aerosolen wir im Extremfall einatmen würden, wenn wir alle die Masken wieder abnehmen. Dann steigt die Anzahl der von einem selbst eingeatmeten Aerosol-Teilchen des Anderen um knapp 40.000 Prozent. So ein Plus liest man selten.
Ich habe vor einiger Zeit eine Video-Simulation aus Japan gesehen von einer Szene, in der drei Menschen sich an einem Tisch gängiger Größe gegenübersitzen. Der Schwall an farbigen Punkten (die sichtbar gemachten Aerosole und kleinen Tröpfchen), die aus den Menschen nur so heraus pladderten und sich über ihr Gegenüber und seinen Bereich der Tischplatte ergossen, wo sonst Teller und Trinkglas stehen – in dem Ausmaß erinnerte es mich an die entsetzlichen Folgen eines gezielten Schrotflintenschusses in einem Horror-Film.

So versprühen wir Aerosole und Tröpfchen. Ist uns das künftig wieder egal?

Gut. Aerosole und kleine Tröpfchen sind ja nicht per se gefährlich. Es müssen schon schädliche Keime dran mitfliegen. Bei einem infektiösen Corona-Infizierten passiert genau das – und bei anderen Atemwegserkrankungen auch. Wenn keine solchen Keime mit rausgeschossen kommen, kriegen wir nur Spucke und Feuchtigkeit aus den Bronchien der Anderen ab. Ekelt uns das künftig trotzdem, jetzt da wir das alles wissen?

Und dann die Handhygiene. Heute werden ja sogar Kugelschreiber desinfiziert. Aber nach Corona bestimmt nicht mehr. Und Einkaufswagen? Und Türklinken von Warenhäusern?

In dieser Gemengelage betrachten wir mal das Hotel-Buffet. Das Sonntags-Brunch-Buffet im Lieblingscafé. Die Salattheke bei REWE to go. Da greifen wir alle zu Gabeln und Schöpflöffeln. Bislang war es uns ja meist egal, wo die Anderen ihre Finger vorher hatten. Aber wie wird es nach Corona sein? Wenn sich da einer mal kurz an der Nase kratzt – leider ziemlich nah an einem der beiden Löcher? Wenn sich jemand Honig von der Fingerspitze leckt und sich dann weiter selbst bei den Brötchen bedient – mit eben diesem Finger? Und hat sich da jeder nach dem Gang ins Bad wirklich 30 Sekunden mit viel Seife alle Kanten und Falten der Hände gewaschen?

Dabei spielt es aus meiner Sicht gar nicht die überragende Rolle, wie genau welche Krankheit übertragen wird (Kontaktinfektion oder über die Luft oder beides) oder bei welcher Temperatur welcher Keim auf welcher Oberfläche wie lange überleben kann. Wer will das ständig durchdenken? Es zählt: Hier sind eklige Keime im Spiel und ich will was essen.

Nun könnte man anmerken: Vor Corona war das alles doch auch gar kein Problem. Nur dann hätte man Unrecht. Wir hatten ja sehr wohl fürchterlich Erkältungswellen. Nicht nur fürchterlich nervig, sondern auch fürchterlich schädlich (nicht zuletzt für die Wirtschaft). Von Grippe ganz zu schweigen. Und Magen-Darm zog blubbernd durch ganze Firmen. Weil wir es mit der Hygiene aus Bequemlichkeit nicht so genau genommen haben. Und es scheint sich jetzt schon zu bewahrheiten: Andere Krankheiten werden dank der Corona-Hygiene seltener.

Pflichtmeldungen der deutschen Labors an das Robert Koch-Institut zeigen: Die Grippewelle fällt diese Saison offenbar aus. In der Saison 2019/20 wurden von Kalenderwoche 49 bis 03 insgesamt 13.350 Grippeinfektionen gemeldet. Jetzt, 2020/21, in gleichem Zeitraum 366.

Ich erinnere mich noch an einen Winter vor Corona. Wie ich das mit den dreißig Sekunden Händewaschen einmal in einem Restaurant durchziehen wollte. Bis mich der Herr hinter mir nach circa Sekunde 19 darauf hinwies: „Jetzt reicht es aber langsam mal.“ Das würde heute nicht mehr passieren. Aber was wird in einem Jahr sein?

Greifen wir künftig wieder an die Buffet-Gabel und nehmen bewusst wieder die fiebrige Nasennebenhöhlenentzündung oder Darmkrämpfe in Kauf? Essen wir irgendwann wieder von der Aufschnittplatte, über die jemand anderes sein Gesicht gehalten hat, während er seinen Bekannten laut zugerufen hat: „WIR SITZEN DA HINTEN!“

Wird es künftig einfach im Buffet ein paar Desinfektionsmittelspender geben? Und wer nicht mitzieht bei der Handhygiene wird gesellschaftlich geächtet wie bislang der, der in der Badehose zum Dinner im Urlaubs-Hotel erscheint? Wird künftig alles derart dicht hinter Glas eingeschalt, dass wir die Mortadella und den Mozzarella nur noch mit Mühe, Fluchen, Gabel, Zange und Löffel zwischen Schlitzen herausangeln können? Gehören künftig Luftreiniger mit HEPA-Filtern daneben? Oder ist leichter Durchzug an allen Plätzen künftig neues Zeichen von gehobener Gastronomie? Wird nach jedem Besucher das Besteck ausgetauscht? Oder alle zwanzig Minuten? Wollen wir uns lieber alles vom Personal anreichen lassen, das dort mit hübschen medizinischen Masken hinter den Gondeln steht? Oder haben wir einfach immer ein Fläschchen Sterillium in der Tasche und machen uns nass, bevor wir am Tisch zu Messer und Gabel greifen?

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Ich finde diese Frage aufregend: Was wird bleiben? Ich glaube, wir werden unsere Köpfe nicht mehr auf null stellen können. Der Ekel überlebt. Ich könnte mir vorstellen, das Buffet wird den Nimbus des All-you-can-Eat-Schlemmerparadieses verlieren und sein Image wird verkommen zu dem einer riskanten Billig-Abfütterung für Sparfüchse. À la carte wird das neue hygienisch. Zumindest wenn das Küchenpersonal sich 30 Sekunden lang die Hände gewaschen hat und so freundlich ist, auch unbeobachtet in die Armbeuge zu niesen.

Ach, wenn ich daran denke: Vielleicht esse ich dann doch lieber daheim.

Mehr zum Thema: Die Pandemie begleitet uns noch mindestens bis Sommer. Dann hätten wir fast anderthalb Jahre nach neuen Hygiene-Routinen gelebt, von der Begrüßung bis zum Lüften. Was wird wohl bleiben?

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