Weiterbildung „Digitalen Lernern scheint etwas zu fehlen“

Hochschulen wie die Universität Stuttgart haben ihre Lehre während der Coronapandemie digitalisiert. Doch mit dem Internetanschluss ist es nicht getan. Quelle: dpa

Immer mehr Menschen lernen vor dem Bildschirm statt im Hörsaal. Damit dabei möglichst viel hängen bleibt, rät der Lernforscher Frank Fischer zu mehr Eigeninitiative – und empfiehlt den Griff zum leeren Blatt.

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Frank Fischer ist Professor für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

WirtschaftsWoche: Herr Fischer, die Pandemie zwingt immer mehr Menschen dazu, von zu Hause aus zu lernen, sei es bei beruflichen Weiterbildungen oder an der Hochschule. Lernt man dabei genau so viel wie im Hörsaal oder im Seminarraum?
Frank Fischer: Was den Lernerfolg betrifft, gibt es im Mittel keinen großen Unterschied von Lernen mit und ohne digitale Medien, das zeigen die meisten Meta-Studien. Das heißt natürlich nicht, dass alle Angebote gleich gut sind. Manche sind deutlich besser, andere deutlich schlechter als der Durchschnitt. Aber grundsätzlich spricht wenig dafür, dass man online weniger lernt als analog. Einen Unterschied aber finde ich bemerkenswert: Die digitalen Lernenden sind häufig unzufriedener, ihnen scheint etwas zu fehlen.

Was könnte das sein?
Ich glaube, es ist die soziale Komponente. Mein Kollege Gerhard Fischer, der an der Universität von Colorado in Boulder forscht, sagte schon sehr früh in der Pandemie, wir brauchen nicht nur „social distancing“, sondern auch „distant socialising“.

Sie haben in München selbst ein Semester Onlinelehre hinter sich. Wie haben Sie die soziale Komponente dabei gefördert?
Als Dozenten können wir nur Angebote machen. Viele Veranstaltungen bei uns laufen zum Beispiel über den Videokonferenzdienst Zoom. Eine Kollegin hatte dazu ihren Studierenden den Vorschlag gemacht, dass sie schon eine Viertelstunde vor Vorlesungsbeginn in der Konferenz ist. Wer noch Fragen hatte oder sich austauschen wollte, konnte ebenfalls früher kommen. Von 1000 Zuhörern haben das Angebot nur eine Handvoll genutzt. Das funktioniert also nur für einige – es wurden viele Ideen ausprobiert und viele Bildungsinstitutionen sind gerade dabei, herauszufinden, was innovative Formen der Interaktion sind, die auch funktionieren.

Warum genau ist der Austausch mit anderen Menschen beim Lernen so wichtig?
Man kann Lernen in verschiedene Formen einteilen. Die erste ist eine passive, rezeptive Form, etwa wenn ich ein Lernvideo oder Präsentationsfolien anschaue. In meinem Langzeitgedächtnis passiert da ein reines Abspeichern von Informationen in schon bestehenden Strukturen. Mache ich mir dazu Notizen, bringe ich es vielleicht schon in Verbindung mit vorhandenem Wissen. Bekomme ich gutes Feedback von Dozierenden oder löse ich Aufgaben mit anderen Lernenden, kann ich mein Wissen restrukturieren und lerne, auch komplexere, offenere Probleme zu erkennen und zu lösen. Genau das ist es, was später von mir verlangt wird. Und um das zu lernen, brauche ich den Input von anderen Menschen. Der hilft mir, das Problem aus einer anderen Perspektive zu sehen. 

Welche Funktion haben die Dozenten dabei?
Sie strukturieren den Lernstoff, helfen mir, das Neue mit vorhandenem Wissen zu verknüpfen und prüfen den Stoff auch ab und zu. In digitalen Kursen müssen sie deshalb präsent und erreichbar sein und es schaffen, regelmäßig Feedback zu geben und auf einzelne Lernende einzugehen. Wenn das bei digitalen Kursen wegfällt, müssen die Lernenden diese Funktion selbst für sich übernehmen – das überfordert viele, vor allem, wenn sie noch nicht viel Vorwissen haben oder keine guten Lernstrategien kennen.

Wer alleine vorm Bildschirm lernt, dem fehlen aber nicht nur Lehrer. Was ist mit den anderen Kursteilnehmern? 
Die Interaktion zwischen den Lernenden ist eine der wichtigsten Stellschrauben in der digitalen Bildung. Dabei ist nicht nur entscheidend, dass ein Austausch möglich ist, sondern auch, wie dieser gestaltet wird. Man sagt ja oft, dass Lernende nicht gut kooperieren können. Das stimmt aber nicht. Menschen lernen vom ersten Lebenstag sehr viele Formen der Interaktion kennen. Wenn dann in einem neuartigen Kontext zusammengearbeitet werden soll, ist oft nicht klar, welche dieser verschiedenen Formen genutzt werden soll – und es kommt zu einem Durcheinander von Erwartungen auf allen Seiten. Gut funktionieren deshalb Kooperationsskripts, in denen festgelegt ist, wer bis wann welche Aufgabe zu erledigen hat und mit wem er oder sie zu welcher Zeit darüber sprechen sollte. Das sorgt für klare Erwartungen. Auch hier gilt: Wenn diese Gestaltung nicht von den Dozierenden angeboten wird, sollten sich die Lernenden selbst darum kümmern.

Wie sollten die Interaktionen denn konkret aussehen?
Eine bewährte Struktur ist das Peer-Feedback. Das könnte so aussehen, dass jeder zunächst alleine versucht, ein Problem zu bearbeiten. Dann gibt man nach bestimmten Bewertungskriterien eine Rückmeldung auf die Lösung der anderen – und bekommt mehrere Rückmeldungen auf den eigenen Versuch. Je mehr Leute mir Feedback geben, desto eher identifiziere ich meine Schwachstellen und kann mir Ratschläge holen, wo ich nochmal nacharbeiten muss.

Welche Strategien würden Sie Lernenden, die auf sich selbst gestellt sind, außerdem empfehlen?
Entscheidend ist, mir klar zu machen, was Woche für Woche von mir erwartet wird und worin mögliche Aufgaben und Prüfungen bestehen, damit ich weiß, woran ich arbeiten kann. Diese Informationen brauche ich vorab, um meine Zeit zu strukturieren und meine Erwartungen zu regulieren. Wenn eine Institution diese Informationen nicht selbst herausrückt, muss ich danach fragen.

Das erleichtert sicher die Vorbereitung. Aber was hilft beim eigentlichen Lernen?
Eine der effektivsten Lernstrategien, die ich kenne, ist die Strategie des leeren Blatts. Ich schreibe alles auf, was ich zu einem Thema weiß. Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn da noch Fehler drin sind. Wichtig ist hier nur das Abrufen des Wissens. Beim Stichwort Lernen denken wir oft nur an Wissensaufnahme. Der Schritt des Abrufens wurde lange Zeit vernachlässigt. Wenn ich das Prüfungsformat schon kenne – umso besser, dann rufe ich mein Wissen mit vorhandenen oder selbst erstellten Prüfungsfragen ab. Hier können Dozierende natürlich helfen, indem sie regelmäßig kleine Abruftests zur Verfügung stellen – wichtig für das Lernen ist, dass die Ergebnisse nicht in eine Bewertung mit einfließen. 

Wie viel Zeit sollte zwischen Lernphase und Wissensabruf liegen?
Dazu kann man sich eine Faustregel merken. Zwischen einzelnen Lerndurchgängen sollte man zehn Prozent der Zeit bis zur Prüfung als Pause festlegen. Hat man noch zehn Tage bis zur Prüfung kann man also einen Tag Pause einplanen. Klar, fängt man – wie so oft – spät an und steht kurz vor der Klausur, hat man für Pausen keine Zeit – dann geht es auch mal geblockt. Grundsätzlich fängt man aber lieber drei Monate vor einer Prüfung mit dem Lernen an, als drei Tage davor.


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Warum ist das so? 
Die Prüfungsleistung ist in beiden Fällen recht ähnlich, wir sehen den Unterschied aber vor allem in der Zeit danach. Wer erst kurz vor der Prüfung in kurzer Zeit viel Wissen aufnimmt, der vergisst es danach auch ebenso schnell wieder. Wer dagegen früh anfängt, der baut Wissen langsamer, aber nachhaltiger auf – es bleibt wesentlich besser im Gedächtnis.

Mehr zum Thema: So gelingt selbstständiges Lernen im virtuellen Klassenzimmer.

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