Manager bewundern Selenskyj Psychologe: „Große Krisen sind Booster für das Charisma“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief seine Landsleute in Videobotschaften zur Abwehr russischer Angriffe auf. Quelle: dpa

Im Netz wird der ukrainische Präsident als Vorbild für Unternehmer gefeiert. Bizarr, bedenkt man die dramatische Situation im Land. Doch Selenskyjs Charisma lässt sich psychologisch erklären.

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„Wenn Selenskyj ein Geschäftsführer wäre, wären seine Mitarbeiter hochmotiviert, produktiv und engagiert“, heißt es im Beitrag eines britischen Personaldienstleisters auf dem Karrierenetzwerk Linkedin. Darunter ist ein Bild von Wolodymyr Selenskyj zu sehen, auf dem der Präsident der Ukraine in grüner Funktionskleidung eine Ansprache an das ukrainische Volk und die Welt hält.

Während sein Land gerade von Russland attackiert wird, ist der Präsident nicht vor den russischen Truppen geflohen, sondern will bleiben, im Zweifel auch kämpfen. Selenskyj, so die Deutung des britischen Unternehmens, verfolge einen Führungsansatz nach dem Motto „Tu, was ich tue“ und nicht „Tu, was ich sage“.

Das Lob für den ukrainischen Präsidenten ist auf der Karriereplattform oder anderen sozialen Netzwerken wie Twitter und Reddit omnipräsent. Und darunter sind viele Beiträge, die sich daran versuchen, Selenskyj als Vorbild für Unternehmer zu inszenieren. Als könnten sich Firmenchefs gezielt Charaktereigenschaften oder Handlungsmuster abgucken von dem Mann, der auch persönlich als Ziel der Russen gilt und sich dieser Gefahr stellt. Sucht man etwa auf LinkedIn nach „Ukraine“ und „Leadership“ finden sich etliche Lehren, die Manager daraus für sich ziehen könnten.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht auch über sein Smartphone im Zentrum von Kiew zur Nation. Quelle: dpa

„Solche Vergleiche sind absoluter Blödsinn“, sagt dagegen Nico Rose, Experte für Führung und ehemaliger Professor für Wirtschaftspsychologie an der International School of Management (ISM) in Dortmund. Diese Vergleiche seien nur nützlich, wenn die Ausgangslage von vergleichbarer Komplexität ist. „Und das ist sie im Fall von Herrn Selenskyj natürlich nicht. Sein Land wird von Russland angegriffen und bombardiert, seine Bevölkerung getötet oder verletzt. Er selbst dürfte ein Ziel der Russen sein und bleibt dennoch vor Ort“, sagt Rose. Auf ein Angebot aus den USA, ihn aus Kiew herauszuholen, soll Selenskyj geantwortet haben, er brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit.

Ein Manager hingegen wird wohl nie in eine solche Situation kommen. Sicherlich, eine unternehmerische Krise oder gar die Geschäftsaufgabe trifft auch Manager, die an der Spitze großer Konzerne unter besonderer Beobachtung stehen. Doch um ihr Leben müssen sie nicht bangen. Und doch beobachtet Rose regelmäßig, dass bekannte Persönlichkeiten, vermeintliche Krisenmanager, in sozialen Netzwerken schnell als Vorbild herangezogen werden. „Passiert auf der Welt etwas, müssen wir das gleich auf die Situation von Unternehmern übertragen“, sagt er. Die Frage, wie sinnvoll das ist, geht dabei schnell unter. „Wenn die deutsche Nationalmannschaft ein Spiel gewinnt, müssen sich Manager plötzlich direkt etwas vom Bundestrainer abschauen. Obwohl es viel komplexer ist, eine Firma mit Hunderttausenden Angestellten zu leiten, als elf Menschen auf dem Platz zu coachen“, betont Rose.

Eine Frage des Charismas

Dass Selenskyj nun als guter Anführer wahrgenommen wird, hängt unter anderem damit zusammen, dass er besonders charismatisch wirkt. Und um charismatisch zu wirken, können schon kleine Dinge ausreichen: „So werden etwa Menschen, die beim Reden viel gestikulieren, als charismatische Redner wahrgenommen“, sagt Rose. Charisma lässt sich also in Teilen trainieren. Es entstehe, sagt Wirtschaftspsychologe Rose, auf zwei Ebenen. „Sie müssen zum einen einflussreich sein und Macht haben, aber gleichzeitig nahbar und zugänglich sein, gewissermaßen Wärme zeigen.“ Für die Leader ist das häufig eine Art Gratwanderung. Sind sie zu nahbar oder warmherzig, wird ihnen womöglich nicht mehr viel Macht attestiert.

Wolodymyr Selenskyj hingegen gelingt das aktuell in „beachtlicher Weise“, beobachtet auch Rose. „Er zeigt als Präsident Präsenz, spricht regelmäßig zum Volk und mit westlichen Politikern. Aber er trinkt auch mit den Soldaten Kaffee, spricht immer wieder über seine Familie.“ Sicherlich wisse sich Selenskyj als ehemaliger Schauspieler auch zu inszenieren, so Rose. „Doch er gibt den Menschen in der Ukraine mit seinem nahbaren Auftreten Orientierung.“ Und große Krisen seien „Booster für das Charisma, sie formen große Politiker“, sagt Rose. Wladimir Putin, der russische Präsident, „hingegen verfügt zweifelsohne über gewaltige Macht, ist jedoch in unserer Beobachtung überhaupt nicht nahbar oder warmherzig, ganz im Gegenteil“.

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Falls Manager unbedingt etwas vom Auftreten von Selenskyj lernen wollen, so vielleicht das: Bilder zeigten zuletzt, dass Putin in Gesprächen mit seinen Beratern und Ministern mehrere Meter von ihnen entfernt saß. Ausschnitte von Beratungen des Sicherheitsrates, in denen selbst ranghohe Politiker eher wie eingeschüchterte Schuljungen wirkten, gaben zuletzt skurrile Einblicke in die Arbeit des Regierungsapparats. „Selenskyj hingegen zeigt sich auf den Straßen Kiews, ist auf Bildern mit seinen Soldaten beim Tee oder Arm in Arm mit seinem Minister zu sehen“, so Rose. „Sicherlich wird auch ein Manager, der sich mit dem Team auf Augenhöhe befindet, charismatischer wahrgenommen.“ Denn wer signalisiere, dass er für das große Ganze eintritt und Teil einer Gruppe ist, wird nahbarer.

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