Autsch! Gerade noch hatte sie sich das Mittagessen mit ein paar Freunden schmecken lassen, als sie mit voller Kraft auf einen Olivenkern beißt: Ein Stück vom Schneidezahn war der jungen Frau abgebrochen, der Zahn wackelt, das Zahnfleisch blutet. Was tun?
Die junge Frau geht über ihr Smartphone auf die mobile Web-Site ihres Zahnarzts, hat die Praxis mit einem Klick an der Strippe. Mit dem eingehenden Anruf poppt auf dem Bildschirm der Arzthelferin automatisch die zur Telefonnummer der Patientin gehörige Krankenakte auf. Ihre Bitte an die Patientin: Sie solle doch ein Foto des verletzten Zahns mailen.
Keine halbe Minute später landet die MMS erst auf dem Smartphone der Praxis, dann auf dem Bildschirm von Zahnarzt und Praxis-Mitinhaber Thomas Müller. Der erkennt auf einen Blick, dass sofortige Hilfe nottut – und dass laut digitalem Terminkalender in einer halben Stunde eine Behandlung möglich ist. Die Patientin bekommt eine automatische Terminbestätigung per SMS, ruft auf der Praxis-Web-Site die Routenbeschreibung ab und macht sich auf den Weg.
Nach kurzem Aufenthalt im Wartebereich der Praxis, den sie sich mit einem dort ausliegenden Tablet-PC verkürzt, erklärt Zahnarzt Müller der Patientin die anstehenden Behandlungsschritte am Bildschirm in der Besprechungsecke des Behandlungszimmers. Nach der Erstversorgung dokumentiert der Arzt Befund und Behandlung anhand von gut zwei Dutzend vorgegebenen Parametern eines digitalen Formulars, in dem er auch Fotos ablegen kann. Auch die weiteren Behandlungsschritte bespricht er mit der Patientin am Bildschirm – anhand eines dreidimensionalen Scans ihres Kiefers.
Virtuelle Planung des Implantants
Die virtuelle Planung des nötigen Implantats übernimmt Müllers Zahnarzt-Kollege Benjamin Weidmann, der den Fall anhand der digitalen Krankenakte problemlos übernehmen kann und zur weiteren Planung den Zahntechniker per Videokonferenz zuschaltet. Zurück zu Hause, findet die Patientin schon eine E-Mail in ihrem Postfach, die die wichtigsten Ergebnisse der Behandlung zusammenfasst und auf den nächsten Termin hinweist, an den sie 24 Stunden vorher nochmals per SMS erinnert wird. Nach der Implantation des neuen Zahns ein paar Tage später schließt Weidmann die digitale Dokumentation mit wenigen Klicks ab. Dazu gehört auch ein automatischer Hinweis an die Arzthelferin, sich tags darauf bei der Patientin telefonisch nach deren Zustand zu erkundigen – dezidierter Fragenkatalog inklusive.
Natürlich: Im deutschsprachigen Raum gibt es heute wohl kaum mehr eine Zahnarztpraxis, die keine Verwaltungssoftware einsetzt. Doch mehr als eine Handvoll standardisierter Formulare, in die Ärzte und Mitarbeiter im Schnellverfahren nach Gusto ihre Abkürzungen kritzeln, stehen in der Regel nicht zur Verfügung. Termine werden per Hand in mehrere riesige Bücher eingetragen, dicke Patientenakten mit Dutzenden Diagnose- und Therapiezetteln unterschiedlichster Formate und Röntgenbildern füllen riesige Aktenschränke.
Standardisierte Einzelschritte
So über viele Jahre auch in der Praxis Müller&Weidmann in Schaffhausen in der Schweiz: Ein halbes Dutzend Terminbücher galt es handschriftlich zu koordinieren, 5000 konventionelle Patientenakten hatten sich bis 2010 in der Praxis angesammelt. Das Archiv wurde immer größer, der Warteraum zu klein, die Arzthelferinnen waren täglich bis zu drei Stunden nur damit beschäftigt, die Unterlagen zu pflegen und ein- und auszuräumen. „So konnte es nicht weitergehen“, erinnert sich Müller. „Wir wollten die Abläufe radikal umbauen.“
Das Ziel: durch digitale Prozesse die Therapien einheitlich strukturiert dokumentieren, den Kontakt mit den Dentallaboren und die Kommunikation mit den Patienten verbessern.
Also zerlegten Müller und Weidmann ihre Wertschöpfungskette und Arbeitsprozesse in standardisierte Einzelschritte – vom ersten Anruf in der Praxis über Anamnese, Befund, Therapieplan und Behandlung eines Patienten bis zum Verschicken der Rechnung. Mithilfe eines Softwarespezialisten entstand in rund sieben Monaten Doconform, ein Paket aus knapp 150 unterschiedlichen Formularen, die die einzelnen Aufgaben so detailliert wie nötig in abzuarbeitende Einzelaufgaben gliedern und Lehrmaterial einbinden, sollte einem der Mitarbeiter der nächste Behandlungsschritt nicht 100-prozentig geläufig sein. Papierrechnungen werden eingescannt, extern zugesandte, klassische Röntgenbilder fotografieren sie per Digitalkamera ab, Müller und Weidmann selbst fertigen Röntgenbilder nur noch digital. Braucht ein Patient eine Füllung oder eine Krone aus Keramik, fertigen sie eine 3-D-Aufnahme des Gebissausschnitts und schicken die Digitaldaten an die praxiseigene Fräsmaschine einen Stock höher, wo das Werkstück nach einer Viertelstunde zur Verfügung steht.
„Mit herkömmlichen Formularen hat die Dokumentation einer Behandlung ewig gedauert, war oft unvollständig und unleserlich“, erinnern sich Müller und Weidmann. „Durch die Digitalisierung des gesamten Arbeitsprozesses sparen wir Zeit und Geld und verbessern den Service für unsere Patienten – das hat extrem viel gebracht.“
Formularpaket auch für andere Praxen
Grund genug für die Jury, die Zahnarztpraxis im schweizerischen Schaffhausen mit ihren gerade mal neun Mitarbeitern mit einem Sonderpreis auszuzeichnen. „Ein hervorragendes Projekt“, sagt Juror Hagen Rickmann. „Auch weil es zeigt, dass man dafür nicht zwingend einen riesigen Apparat braucht, sondern in erster Linie unternehmerische Intelligenz.“
Davon wollen Müller und Weidmann auch die Konkurrenz überzeugen, bieten das von ihnen entwickelte Formularpaket auch anderen Praxen an. Gerade haben eine Schweizer Klinikkette sowie einige Praxen die Software übernommen, über die die findigen Dentisten bald auch einen eigenen Web-Shop angliedern wollen. Bürstchen und Zahnseide lassen sich schon heute online über die Praxis bestellen.
„Die Digitalisierung auch unserer Branche schreitet voran“, sagt Müller. „Davor dürfen und wollen wir uns nicht verschließen.“