Soziologe über Digitalisierung „Deutschland steht sich selbst im Weg“

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Typische Resignation: ‚Dann ziehen wir eben den Stecker‘

Sie beschreiben in Ihren Vorträgen und auch in Ihrem aktuellen Buch die Digitalisierung als Revolution vom Kaliber des Buchdrucks vor rund 570 Jahren. Mit welcher Veränderung haben die Menschen größere Probleme?
Die bisherigen drei Medienrevolutionen hatten mit der jetzigen vierten eines gemeinsam: Sie gingen mit einem Überfluss an Kommunikation einher. Das gilt für die Sprache, das gilt für die Schrift und vor allem für den Buchdruck. Der wichtigste Unterschied zwischen Digitalisierung und Buchdruck ist, dass der Buchdruck die moderne Gesellschaft erst erzeugt hat. Die allmählich alphabetisierte Bevölkerung konnte in einen kritischen Geisteszustand versetzt werden – daraus entstanden Aufklärung und Humanismus. Die Grundregel dieser modernen Gesellschaft ist: Wer aktiv kritisiert, muss sich auch selbst der Kritik aussetzen. Der springende Punkt ist, dass Sie einen Computer nicht kritisieren, einem Algorithmus nicht mit Vernunft kommen können.

Und damit haben wir ein Problem?
Sie haben es da mit Daten zu tun, die so sind, wie sie sind. Die große und neue Entdeckung ist, dass wir in unserer menschlichen Kommunikation mit neuen Partnern konfrontiert sind. Wir schätzen Individuen, die ihre eigenen Absichten, ihre eigene Geschichte und Biografie, ihr eigenes Gedächtnis haben. Dieselben drei Bedingungen gelten mittlerweile auch für die Maschinen der digitalen Medien: Sie sind undurchschaubar, sie haben ein wesentlich stärkeres und verlässlicheres Gedächtnis als Menschen – und ihr Handeln ist unvorhersehbar, weil wir ihre Algorithmen nicht berechnen können. Maschinen haben in ihrer Beteiligung an Kommunikation denselben Status wie Menschen. Das sind wir noch nicht gewohnt.

Was bedeutet das für zwischenmenschliche Verhältnisse, wenn nicht mehr die relativen Wahrheiten des Einzelnen zählen, sondern die gesammelten Fakten der Maschinen?
Community ist einer der ganz großen Begriffe der letzten 15 bis 20 Jahre. Da wird das „typisch menschliche“ gepflegt. Überall geht es um Menschen, die etwas miteinander zu tun haben, weil man glaubt, etwas miteinander zu tun zu haben – eine blanke Tautologie! Das ist die Stärkung der menschlichen Seite gegenüber der Maschine. Wir haben eine große Wellnessmode, wo der Mensch sich auf seine Körperlichkeit zurückzieht, unter Umständen sogar in Wellnesshotels geht, wo der Strom abgeschaltet werden kann. Wir erleben eine neue Kunstgattung, die Performancekunst, wo nichts anderes mehr vorgeführt wird als der zerbrechliche menschliche Körper. Da stehen nicht mehr die sprechenden, deklamierenden Schauspieler auf der Bühne, die ihr Schicksal in die Hand nehmen, sondern da stehen Performer, die winseln und schreien und mit Effekten des Raums spielen. Sie sind reine körperliche Existenzen – da kommen die Maschinen nicht mit. Da schauen wir auf uns selbst und genießen es, dass wir etwas sind, das die Maschinen noch nicht sind.

Was macht es mit Menschen, wenn sie von allwissenden Maschinen umgeben sind – hemmt oder beflügelt das Kreativität und Erfindungsreichtum?
Es gibt scharenweise Menschen, die sich faszinieren lassen. Denken Sie an die Start-up-Szene und Ideen wie agiles Management. Es gibt eine enorme Faszination dafür, Dinge wie Aktenführung hinter sich lassen zu können. Es gibt aber auch maschinenstürmerische Tendenzen. Je bedrohlicher das Szenario wird, dass Arbeitsplätze verloren gehen, desto mehr müssen wir auch mit Maschinenstürmen rechnen – sowohl auf der kollektiven wie auch auf der individuellen Ebene, wo es möglicherweise zu neuen Aussteigertendenzen kommt. In Firmen hört man das manchmal in Form des resignierten Satzes: ‚Dann ziehen wir eben den Stecker.‘ Das ist zwar sanfte Gewalt, aber Ausdruck der Idee, die Geräte einfach abzuschalten.

Löst Digitalisierung Aufruhr und Konflikte aus?
Ja, weil sie nicht allein auftritt, sondern im Rahmen der Globalisierung und zeitgleich mit dem Klimawandel. Der ist schon seit ein paar Jahrzehnten im Gange, hat aber bislang noch nicht die ganz große greifbare Dimension erreicht. Jetzt erfahren wir, auch dank digitaler Medien, dass es wohl doch schlimmer ist, als je gedacht. Das löst eine enorme Unruhe aus, die dramatische politische Effekte hat. In Unternehmen bedeutet das, dass man noch schneller getaktet denken und planen muss, die langfristigen Strategien von einst sind verloren. Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung sind drei politisch nicht mehr zu bewältigende große Herausforderungen der menschlichen Gesellschaft. Man versucht händeringend damit umzugehen – doch die Lösung gibt es noch nicht.

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