Umgangsformen Die Umarmung ist der neue Handschlag

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Wärme aus Imagegründen

Die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre verwischt damit weiter. Der Politiker soll auch als Privatperson kenntlich und damit glaubwürdig werden. So wird er zum Repräsentanten seiner selbst – und produziert spontan wirkende Gesten der Wärme und Zwischenmenschlichkeit. Wenn das bürgerliche Zeitalter um Würde und distanzierende Selbstbeherrschung bemüht war, dann ist in nachbürgerlichen Zeiten Ausdrucksoffenheit das Ziel: Man gibt sich unverstellt und zeigt möglichst direkt, wer man wirklich ist – oder vielleicht liebend gerne wäre.

Sennetts israelische Kollegin Eva Illouz spricht vom neuen „therapeutisch-emotionalen Stil“, der die Trennung zwischen emotionsfreier öffentlicher Sphäre und einer mit Emotionen gesättigten Privatsphäre zersetzt habe. Niemals zuvor sei das „private Selbst derart öffentlich inszeniert worden“. Auch Männer seien nun eingeladen, ihre Emotionen auszudrücken.

Da bietet sich die Berührung schon aufgrund ihrer wohltuenden therapeutischen Wirkung an. Mindestens vier Umarmungen täglich empfehlen Gesundheitsratgeber. Besser seien acht, zwecks Ausschüttung des Botenstoffs Oxytocin, der als Bindungshormon bekannt ist. Berührungen, da sind sich Forscher einig, stärken das Immunsystem und Beziehungen. Mehr Umarmungen, weniger Stress.

Drei Viertel der unter 30-Jährigen in Deutschland, so weiß eine Statistik, begrüßen einander mit Wangenküssen. Umarmungen sind bei Geburtstagspartys, Abschlussfeiern oder Wiederbegegnungen inzwischen die Regel. Die liebevolle, manchmal stürmische Umarmung ist unter Freundinnen längst üblich. Ihr männliches Pendant ist die kurze, klatschende Umarmung. Sie hat nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft erreicht: In traditionell testosterongesteuerten Branchen wie der Automobil- oder Medienindustrie machen sich Top-Manager bei öffentlichen Auftritten mit kernigen Umarmungen gegenseitig Mut.

Globale Trend zur Umarmung

Auf dem Fußballplatz, wo sich wildfremde Leute regelmäßig um den Hals fallen, war die Umarmung schon immer zu Hause. Je enger die Umarmung, desto inniger scheint die Beziehung. Sie ist unter Freunden und guten Kollegen selbstverständlich geworden, fast wie eine Grußfloskel, die man automatisch erwidert.

Gewiss, es gibt Unterschiede: In anfassfreudigen Ländern wie Brasilien wird ausgiebiger umarmt als in England. Auch in Mitteleuropa und den USA gilt unter Gesprächspartnern mindestens der Abstand einer Armeslänge: US-Präsident Obama tippte beim Gespräch im Oval Office vor einem Jahr bei ausgestrecktem Arm mit den Fingerspitzen auf den Unterarm der Kanzlerin. Doch der globale Trend geht zur Umarmung als elementarer Geste des Wohlwollens, der Freundschaft, der Ermutigung, auch des Trosts.

Als der deutsche Innenminister Thomas de Maizière seinem Amtskollegen Bernard Cazeneuve nach dem Anschlag auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris kondolierte, neigte er sich ihm zu und umarmte ihn fest. Eine im wahrsten Sinne des Wortes berührende Geste, auch wenn sie womöglich durch die Kameras zustande kam.


Balanceakte der Vertrautheit

Authentizität will im Zeitalter der Massenmedien eben inszeniert werden. „Wir alle spielen Theater“, sagt der Soziologe Erving Goffman. Dabei zeigt sich zuweilen, dass die Sprache des Körpers der Wahrheit tatsächlich näher ist als das Wort. Etwa dann, wenn die Umarmung zu einem Remis zwischen Hinwendung und Abwehr gerät, zu einem Balanceakt, wie ihn der „Spiegel“ bei Angela Merkel beobachtet hat: Sie erwidert die Umarmung ihres Gegenübers und reguliert zugleich mit der freien Hand den Abstand. Sozialpsychologen sprechen von korrektivem Austausch.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hat Merkel zuletzt nur die Hand gereicht, garniert mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck. Auch Alexis Tsipras hat ihr bisher keinen Grund für „gesteigerte Zugänglichkeit“ (Goffman) gegeben. Von Matteo Renzi lässt der Grieche sich in den Schwitzkasten nehmen, zu Angela Merkel geht er Arme drückend auf Distanz.

Ein heikler Rest bleibt: Überraschungsbegrüßungen können missglücken, zum Beispiel wenn ein privater Spaß auf öffentlicher Bühne daneben geht. So wie auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg im Jahr 2006.

Damals brachte der damalige US-Präsident George W. Bush die Bundeskanzlerin mit einem beherzten Griff in den Nacken in Verlegenheit. Amerikanische Medien wollten aus der zärtlichen Attacke einen Grapsch-Skandal machen. Dabei war sie nur eine kleine, harmlose Peinlichkeit, wie sie entstehen kann, wenn nicht mehr ganz klar ist, was sich gehört.

Informalisierung und Intimisierung bedeuten nicht, dass man sich alles erlauben kann. Im Gegenteil: Sie erfordern viel Taktgefühl und soziales Gespür. Gerade weil die Schamschwellen im Umgang miteinander sinken, kommt es darauf an, in wechselnden Situationen und Milieus das jeweils richtige Maß zwischen Nähe und Distanz zu finden. Es sei denn, man will die Regeln durchbrechen.

Als der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg beim Neujahrsempfang 2006 die oberste Richterin des Staates New York mit elitären europäischen Wangenküssen grüßte, verstieß er bewusst gegen das herrschende Reglement und erntete empörte Pressekommentare. Zehn Jahre später regt sich darüber niemand mehr auf.

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