Werner knallhart

Fluch der Smartphones: Die ständige Suche nach dem Fotomotiv

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Es geht anders

Es geht anders: Als wir mal mit Freunden am Schloss von Versailles waren, da habe ich einem Freund noch am Parkplatz einen Vorschlag gemacht: „Mach die Augen zu und lass dich von mir blind bis an den Platz führen, von wo wir die beste Aussicht über die Gärten haben. Dann öffnest du dort auf mein Kommando die Augen für drei Sekunden und machst sie danach sofort wieder fest zu.“

Er hat das genau so gemacht. Seine ganze Wahrnehmung von Versailles war allein der Eindruck von den berühmten Gärten für drei Sekunden. Das ist bestimmt sieben, acht Jahre her. Am vergangenen Wochenende habe ich ihn gefragt: „Erinnert du dich noch an den Tag in Versailles?“ Seine Antwort: „Der Moment sitzt in meinem Gehirn wie ein eingepflanztes Foto.“

Ist es nicht schade, dass wir die schönsten Momente durchkreuzen, indem wir unsere Smartphones raus wühlen? Dass wir unsere Erinnerungen im Moment der Momente zerkratzen wie eine Schallplatte?

Doch das ganze System Smartphone ist genau darauf ausgerichtet. Guckt man sich etwa die Produktbeschreibung vom neuen iPhone 12 Pro auf der Apple-Website an, dann sieht man, welchen Stellenwert die Kamera-Funktionen haben: Erst kommen knapp drei Handlängen technische Details zu Foto- und Video-Funktion von UItra-Weitwinkel bis Cinematic Videostabilisierung. Genial. Will ich haben. Erst weit darunter folgen ein paar Details zum Mobilfunk. Och, 5G. Naja.

Und im nächsten Schritt greift Instagram ins Gefüge ein und ködert uns mit dem berauschenden Gefühl: Du bist spannend, wenn dein Leben es ist. Und ob dein Leben spannend ist, entscheiden deine Follower per Like.


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Seit einigen Monaten spült mir mein iPhone einen wilden Mix von Fotos aus diversen Jahren auf meinen Übersichts-Bildschirm zwischen Wettervorhersage und Aktienkurse. Wunderbare Erinnerungen. Das war bislang dein Leben. Aber bei vielen Fotos denke ich: Mein Gott, du hast irgendwie die ganze Zeit fotografiert.

Ich wünsche mir eine Funktion im Handy, die mich nach einem Monat auffordert, Fotos zu markieren, die ich für immer archivieren möchte. Und der Rest wird ein paar Wochen später aus allen Alben, Clouds und Festplatten gelöscht. Es überfordert mich zu sehen, dass ich vor einigen Jahren, als ich noch dieses eine T-Shirt hatte, das ich so nie wieder kaufen würde, an irgendeinem Strand einen riesigen Teller Tapas gegessen habe. Und ich kann mich an diesen Moment nicht mehr erinnern. An viele andere auch nicht. Wenn ich die Ort- und Zeitangabe der Fotodatei prüfen muss, macht mich das nicht sentimental, sondern traurig.

Vorgestern habe ich mir eine Badewanne mit einem Espresso gegönnt. Als das Espresso-Gläschen leer war, habe ich es unter den Badeschaum getaucht. Als ich es langsam aus dem Wasser hob, saß auf dem Glas eine einzige große Seifenblase. Sie überspannte das Glas wie diese durchsichtigen Halbkugel-Plastikdeckel die Kaffee-Schnickschnack-Becher mit Schlagsahne und Sirup bei Starbucks. Sofort dachte ich an mein Smartphone. Und wie könnte der Spruch lauten, den ich bei Facebook oder Twitter schreiben würde?

Aber die Kamera lag zu weit weg. Und so betrachtete ich die Seifenblase, ihre Regenbogen-Schlieren, hielt sie gegen das Licht, freute mich über den Deckel aus Seife und pustete die Blase weg. Plipp!

Diesen Moment habe ich für mich ganz alleine gehabt. Und vielleicht kann ich mich auch noch in ein paar Monaten dran erinnern. Vielleicht in ein paar Jahren. Vielleicht auch nicht. Dann ist es auch egal.

Ich mache das jetzt häufiger. Den Moment der Kamera klauen. Damit er nur mir gehört. Solange, wie ich mich an ihn erinnern will.

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