Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

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Wann hat Europa die Vorstellung eines demokratischen Aktienmarktes erreicht? Mit dem Thatcherismus, zu dessen Erfolgsgeheimnissen der people’s capitalism gehörte. Das Interessante am Thatcherismus war, dass er nicht – wie üblich – die Ökonomisierung des Politischen thematisierte, sondern die Politisierung der Ökonomie beschrieb. Seither ist es möglich, auch linke Emanzipationsvorstellungen in die Marktlogik einzuschreiben: Die Spekulation mag blind gegenüber dem ökonomischen Prozess sein – blind » gegenüber Geschlecht, Herkunft, Rasse und Klasse ist sie auf jeden Fall. Und doch hält sich hierzulande Kritik an der Spekulation, die Kleinanleger vom Markt fernhält. Es hat Tradition in Europa, die Leute vor der Spekulation zu schützen. Bereits Max Weber sah mit großem Unbehagen, dass kleine Anleger ihr Glück an der Börse versuchten. Sein Ideal der Börse war das eines Tätigkeitsfeldes für verantwortungsvolle Finanziers, die nicht beim ersten Fehlschlag Schiffbruch erleiden. Mit dem restriktiven Zugang zur Börse verband Weber die Hoffnung auf ihre Stabilität. Warum sah er sie von Kleinanlegern bedroht? Weber kritisierte, dass an der Börse Leute zu spekulieren begannen, die keine Ahnung von Ökonomie hatten– und die sich nur von diesem rauschhaft-spielerischen Moment der Speku-lation angezogen fühlten. Er sah dadurch die ökonomische Rationalität der Börse gefährdet – und er fragte sich: Was passiert, wenn die Mehrheit der Spekulanten nicht mehr über die Fähigkeit der Zukunftsbeherrschung verfügt? Weber glaubte nicht daran, dass mit der Liquidität auch die Stabilität des Marktes steigt. Die „Vernunft der Masse“ erschien ihm als fast schon religiöses Motiv: als irrationale, entpersonalisierte Logik des Marktes, die glaubt, sich über die Summe der irrigen Einzel-Logiken erheben zu können. Wenn man sich manche Marktteilnehmer anschaut, getrieben von der Gier und vom Traum eines bedingungslosen Einkommens... ...dann könnte man meinen, Weber habe teilweise recht. Hat er ja auch. Nur darf man nicht glauben, der professionelle Spekulant sei grundsätzlich besser gegen menschliches Fehlverhalten gefeit als der Kleinanleger. Gerade dies betonen von der Massenpsychologie beeinflusste Ökonomen: Jeder ist anfällig für die Suggestion der Massenbewegung, für die Logik der Masse als ansteckender Prozess – vor allem im Falle der Finanzmassen, die ja der kollektiven Täuschung erliegen, individuell reich zu werden. Wie wird die Masse zur Masse? Durch gegenseitige Ansteckung, durch die Schnelligkeit, mit der sie sich und damit ihre Attraktivität vergrößert – und durch die Begeisterung, die sich selbst entgegenbringt: Massen sind weniger von einem Zweck her bestimmt; stattdessen machen sie sich im Zuge eines Wirklichkeitsrausches zum Gegenstand ihrer Selbstbewunderung, das heißt, die Masse vergrößert sich, indem sie zum sinnlichen Fixpunkt wird. Im Falle der Finanzmasse kommt hinzu, dass sich in ihr jeder für rationaler und individueller als die Masse selbst hält – und dass ihre Selbstreferenz sich umso leichter entfalten kann, als sie der Selbstreferenz der Börsenspekulation entspringt. Die Finanzökonomie wird in diesen Krisendiagnosen aus ihrem Innersten heraus von den Gesetzen der Massenpsychologie beherrscht. Von welchen Gesetzen sprechen Sie? Etwa vom Gesetz des Gerüchtes und des imitatorischen Verhaltens. Gerüchte sind ihrem Wesen nach mitreißend, sie reduzieren Reaktionen auf Impulse, tilgen Information, erfordern schnelles Handeln. Gerüchte können die Entstehung von Massen also nicht nur begünstigen, sondern auch beschleunigen; sie initiieren eine Herdenlogik der Imitation. Im Boom sind sie affektiv aufgeladen durch die Geldgier: Das Publikum mag vielleicht nicht die Gründe für einen Kursanstieg verstehen, wohl aber versteht es, dass ein Wertpapier steigt – und dass ihm Gewinne durch die Lappen gehen.

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