Lange Zeit wehrte sich vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) mit einer extrem expansiven Geldpolitik gegen das Schreckgespenst der Deflation. Doch diese Konstellation hat sich seit Ende des vergangenen Jahres komplett gedreht. Nicht mehr die Deflation, sondern die Inflation ist in vielen Ländern das beherrschende Thema. Vielerorts rangieren die Steigerungsraten auf dem höchsten Stand seit mehreren Jahrzehnten, auch in den USA und in der Eurozone. Im September betrug die jährliche Teuerungsrate in Deutschland 10,9 Prozent (EU-harmonisiert), in den USA 8,2 Prozent. Doch wer denkt, dass überall die exakt identischen ökonomischen Mechanismen dafür verantwortlich sind, der irrt.
Das Comeback der Inflation
Vergleicht man die Situation in den USA mit der in Deutschland beziehungsweise der Eurozone, so zeigt sich: Unterschiedliche Ursachen führen zu den jeweiligen Inflationsdynamiken. Gemein ist beiden Wirtschaftsräumen zwar die Lieferkettenproblematik für (Vor-)Produkte aus Fernost. Doch während in den USA vorwiegend Nachfragefaktoren aufgrund der heiß gelaufenen Wirtschaft für die Preissteigerungen verantwortlich sind, sieht es in der Eurozone anders aus. Hier wird die Inflation vor allem durch angebotsseitige Preisschocks bei Energie und Nahrungsmitteln befeuert. Zudem waren in den USA Zweitrundeneffekte wie etwa Lohnsteigerungen bisher wesentlich ausgeprägter zu sehen als in Europa.
Abzulesen sind die Unterschiede der zwei Wirtschaftsregionen auch anhand eines Vergleichs der Gesamtinflationsrate mit der sogenannten Kerninflation. Letztere berücksichtigt keine volatilen Güter wie Energie und Nahrungsmittel. Die zwei Inflations-Kennzahlen liegen in den USA deutlich weniger weit auseinander als hierzulande. Man könnte auch sagen: Die Inflation ist in den USA auf deutlich breitere Füße gestellt. In Deutschland ist der Einfluss auf das Inflationsgeschehen durch Energie- und Nahrungsmittelpreise dagegen enorm. Diese stiegen nach Daten des Statischen Bundesamtes in den vergangenen 12 Monaten um 43,9% respektive 18,7% an.
Wie lassen sich diese Eigenarten der zwei Wirtschaftsräume erklären? Zum einen ist der Arbeitsmarkt in den USA mit einer geringeren Arbeitslosenquote von 3,5% (unweit des Vollbeschäftigungsniveaus) deutlich solider aufgestellt als in Deutschland beziehungsweise der Eurozone. Auch dürfte das gigantische Corona-Hilfspaket der Biden-Administration seinen Beitrag zur Nachfragesteigerung geleistet haben. Zum anderen hat der Krieg in der Ukraine die europäische Energieversorgung merklich durcheinandergewirbelt und bei manchen Agrarprodukten für eine spürbare Knappheit gesorgt. Die USA blieben von diesen Aspekten weitgehend verschont. Außerdem hat der Euro im Verlauf des vergangenen Jahres gegenüber vielen Währungen deutlich an Wert eingebüßt, was Importe teurer macht und so die Inflation zusätzlich anheizt. Der US-Dollar verlor zum Euro auf Jahressicht rund 20 Prozent.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Reaktion der Notenbanken
Wie reagieren die Notenbanken auf die Inflation? In diesem Fall ist die Antwort – für die Eurozone und die USA – einfach: Durch Anheben des Leitzinses. Die Fed hat seit März dieses Jahres ihre Leitzinsspanne von 0 bis 0,25 Prozent auf 3 bis 3,25 Prozent deutlich angehoben. Fed-Präsident Jerome Powell stellte klar, diesen Pfad auch weiterhin restriktiv bestreiten zu wollen, bis die Teuerungsdynamik nachgelassen hat. Auch die EZB hat im Juli mit Zinssteigerungen begonnen und die Rate auf aktuell 1,25 Prozent angehoben.
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Allerdings hat die Fed einen signifikanten Vorteil gegenüber der EZB: Leitzinsen beeinflussen im Wesentlichen die Nachfrageseite. Aufgrund der eher nachfragegetriebenen Preisdynamik in den USA sind Zinserhöhungen hier ein wesentlich effektiveres Instrument. Die letzten Monate zeigen, dass der „Teuerungs-Peak“ in den USA bereits überschritten sein könnte, sofern keine neuen exogenen Schocks auftreten. In der Eurozone kann die Geldpolitik dagegen nur indirekt reagieren, da sie auf die Vielzahl der Faktoren keinen unmittelbaren Einfluss hat. Das haben auch einige EZB-Offizielle in letzter Zeit immer wieder betont. Zudem hat die Inflationsdynamik zuletzt nochmals Fahrt aufgenommen. Letztendlich kann sie nur vorsorglich auf Zweitrundeffekte und Erwartungsbildung abstellen und muss hoffen, dass sich die exogenen Preisschocks an den Energie- und Nahrungsmittelmärkten wieder beruhigen.
Marktseitige Erwartungen und Ausblick
In den USA wird ein weiteres Ansteigen der Zinsen auf 4,75 bis 5 Prozent für Mitte nächsten Jahres erwartet. Danach könnten bei einer abgeflachten Inflationsdynamik auch sukzessive wieder Zinssenkungen erfolgen. Für Europa sehen Finanzexperten bis Mitte nächsten Jahres einen Anstieg der Leitzinsen auf knapp über 3 Prozent. Sollten die Projektionen der EZB-Volkswirte zur Inflation im Euroraum jedoch angehoben werden, dürfte die Leitzinserhöhung sogar noch stärker ausfallen.
Ein Teil des erwarteten Leitzinsanstieges sollte also noch vor uns liegen. Das Anheben der Zinsen wird, was die Konjunktur betrifft, für deutliche Bremsspuren sorgen. Aber letztendlich schätzen die Zentralbanken die volkswirtschaftlichen Gefahren und Kosten eines verlangsamten Wachstums mäßiger ein als die einer aus dem Ruder laufenden Inflation.
Anlegern stehen also weiterhin unsichere Zeiten bevor. Vor allem auf dem europäischen Kontinent. Wer sich gegen eine verfestigende Inflation absichern will, kann rentenseitig zum Beispiel auf inflationsindexierte Anleihen zurückgreifen. Diese gewähren dank ihrer Bindung an einen Verbraucherpreisindex Schutz vor einem Kaufkraftverlust des investierten Geldes. Zudem bieten Aktien von Unternehmen, die Preissteigerungen gut an Kunden weitergeben können („Preissetzungsmacht“), quasi einen eingebauten Inflationsschutz. Sich eintrübende wirtschaftliche Aussichten sind für den Aktienmarkt allerdings ein weiteres Hemmnis, weshalb Investoren immer auch auf die Stabilität der Unternehmensgewinne achten sollten.
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