Ein Jahr Flüchtlingspakt Wie stabil ist Abkommen mit der Türkei?

Um den Flüchtlingszustrom in die EU einzudämmen, ist Brüssel einen Pakt mit Erdogan eingegangen. Die Zahl der Flüchtlinge, die illegal übersetzen, hat zwar deutlich abgenommen. Aber das Abkommen bleibt ein Risiko.

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Sollte Ankara das Flüchtlingsabkommen aufkündigen, hätte das wohl direkte Auswirkungen auf die Bundestagswahl. Quelle: AFP

Berlin Ein Jahr nach Inkrafttreten steht das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei vor seiner bisher schwersten Bewährungsprobe. Der Pakt werde derzeit neu bewertet, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in einem Fernsehinterview. Wenn die EU-Staaten türkischen Bürgern nicht wie vereinbart Visafreiheit gewährten, könne das Abkommen auch aufgekündigt werden, drohte der Minister.

Das ist zumindest die offizielle Version. Tatsächlich dürfte die Drohung wohl eher im Zusammenhang mit dem Wahlkampf für das Verfassungsreferendum am 16. April stehen, mit dem sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine beispiellose Machtfülle sichern will. In Deutschland oder den Niederlanden waren Auftritte türkischer Regierungsmitglieder, die für das Referendum werben wollten, untersagt worden. Erdogan wirft den Ländern eine Einschränkung der Meinungsfreiheit vor und unterstellte ihnen Nazi-Methoden.

Der türkische Präsident hatte schon im vergangenen November gedroht, gegebenenfalls die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Er reagierte damit auf eine nicht bindende Resolution des Europaparlaments, in dem die Parlamentarier eine Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert hatten. Die EU-Kommission hält bisher trotz der politischen Eiszeit zwischen beiden Seiten am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest.

Was ist im Abkommen geregelt?

Ziel des Abkommens war es, den Migrationsstrom über die Ägäis zu stoppen und Flüchtlinge davon abzuhalten, überhaupt die lebensgefährliche Reise in oft seeuntauglichen Booten anzutreten. Darum sollen Flüchtlinge, die es trotzdem versuchen und es bis nach Griechenland schaffen, nach Prüfung ihres Asylbegehrens in die Türkei zurückgebracht werden.

Im Gegenzug verpflichten sich die Europäer, für jeden Zurückgeschickten einen Flüchtling aufzunehmen, der in der Türkei untergekommen ist. Die Brüsseler Kommission und die EU-Staaten haben Ankara zudem insgesamt sechs Milliarden Euro zugesagt, um die Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei zu verbessern oder ihnen Zugang zu Bildung oder Jobs zu verschaffen. Außerdem war vereinbart worden, die Verhandlungen über Reiseerleichterungen zu beschleunigen, um die Visapflicht für Bürger aus der Türkei bis spätestens Ende Juni 2016 aufzuheben. Diesen Passus hatte die EU allerdings an Bedingungen geknüpft, etwa eine Reform der Anti-Terrorgesetze in der Türkei, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zulassen.

Hat das Abkommen die gefährliche Flucht über die Ägäis gestoppt?

Im Oktober 2015 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, kamen noch fast 212.000 Schutzsuchende in ihren Booten auf den griechischen Inseln an. Im Februar vergangenen Jahres, also dem Monat vor Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens, waren es noch gut 57.000. Bis Februar 2017 ist die Zahl auf knapp 1.100 gesunken.

Knapp 40 Prozent der seit Jahresbeginn registrierten Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln sind Syrer. Weitere große Gruppen stellen Iraker (9,6 Prozent), Afghanen (7,1 Prozent) und Pakistaner (6,6 Prozent). Das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR beobachtet allerdings, dass sich der Flüchtlingsstrom auf das zentrale Mittelmeer von Nordafrika nach Italien verlagert hat. Gut 181.000 Menschen wählten im vergangenen Jahr diese Route – meist unterstützt durch kriminelle Schlepperbanden. Knapp 5.100 Menschen starben 2016 bei der Überfahrt über das Mittelmeer oder werden vermisst – in keinem Jahr zuvor wurden so viele Opfer registriert.

Wie funktioniert die „Umverteilung“ der Flüchtlinge?

Die Zahlen sind ernüchternd. Bis Anfang März wurden nach Angaben der EU-Kommission 916 Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Die EU-Staaten nahmen im Rahmen von Umsiedlungsvereinbarungen zwischen April 2016 und Mitte März 2017 gut 3.900 Flüchtlinge aus der Türkei auf. Der größte Teil (1.403) fand Zuflucht in Deutschland, gefolgt von den Niederlanden (751), Frankreich (617) und Finnland (285).

Wie weit ist die EU mit ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber Ankara?

Für die Jahre 2016 und 2017 hatte die EU Ankara drei Milliarden Euro zugesagt – eine Milliarde Euro aus dem EU-Budget und zwei Milliarden Euro aus den Mitgliedstaaten. Bis Anfang März waren davon 2,2 Milliarden Euro bereitgestellt. 39 Projekte im Volumen von 1,5 Milliarden Euro sind mit der Türkei vereinbart, wirklich ausgezahlt wurden bisher aber nur 777 Millionen Euro. Für 2018 hat die EU der Türkei weitere drei Milliarden Euro in Aussicht gestellt, allerdings nur, wenn die Mittel aus der ersten Tranche nahezu ausgeschöpft sind und alle Vereinbarungen aus dem Abkommen eingehalten werden.


Welche Folgen die Aufkündigung des Abkommens für Merkel hätte

Hat sich die Flüchtlingslage in der Türkei und in Griechenland entspannt?

Die Türkei beherbergt nach Angaben der EU-Kommission heute mehr als 2,8 Millionen Flüchtlinge, fast ausschließlich Syrer. Gemessen an der Bevölkerungszahl steht das Land mit 35 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner aber immer noch besser da, als die anderen an Syrien angrenzen Länder Libanon (173) und Jordanien (89).

In Griechenland hat sich die Situation nicht entspannt. So leben auf den griechischen Inseln derzeit immer noch knapp 13.000 Flüchtlinge, obwohl es nur Aufnahmekapazitäten für knapp 9.000 gibt. Auf dem griechischen Festland sind es knapp 34.000 Asylsuchende. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk hatte zum Jahresbeginn erneut die „prekäre Situation“ vieler Flüchtlinge auf den griechischen Inseln beklagt und angemahnt, sie rascher aufs Festland zu bringen, wo sie besser versorgt werden können.

Allerdings lässt auch die Solidarität der übrigen europäischen Länder mit Griechenland aus Sicht des UNHCR zu wünschen übrig. Die Zahl der Asylsuchenden, die Griechenland verlassen haben oder im Rahmen des EU-Verteilungsmechanismus für die Verteilung innerhalb der nächsten zwei Jahre vorgemerkt wurden, belief sich bis zum Beginn dieses Jahres nur auf 7.760. Dies entspreche nur rund zwölf Prozent der im vergangenen Jahr vereinbarten 66.400 Plätze und sei „inakzeptabel niedrig“, kritisiert das UNHCR.

Welche Folgen hätte eine Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens für Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Die deutsche Regierungschefin hat immer wieder betont, dass es nur eine europäische Lösung für die Flüchtlingsproblematik geben kann. Da Merkel eine Schließung der innereuropäischen Grenzen bis heute ablehnt, steht und fällt die Akzeptanz ihrer Flüchtlingspolitik mit einer effektiven Sicherung der europäischen Außengrenzen. Diesen Job haben die Europäer im östlichen Mittelmeer an die Türkei delegiert.

Sollte Ankara das Flüchtlingsabkommen tatsächlich aufkündigen, könnten also wieder verstärkt Flüchtlinge an der türkischen Küste in See stechen. Da aber zahlreiche europäische Länder auf der „Balkanroute“ nach Mitteleuropa ihre Grenzen für Flüchtlinge abgeriegelt haben, würden sich die Neuankömmlinge voraussichtlich in Griechenland stauen. Wenn es dann nicht gelingt, einen effektiveren europäischen Umverteilungsmechanismus in Gang zu setzen, würde die Flüchtlingskrise Europa mit Macht wieder einholen.

Viele Staaten, vor allem in Osteuropa, lehnen aber einen verbindlichen Umverteilungsmechanismus mit festen Quoten entschieden ab oder wollen – wie etwa Polen – gar keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen. Direkte Auswirkungen auf den deutschen Bundestagswahlkampf wären zu befürchten, falls das überforderte Griechenland die Flüchtlinge einfach ziehen ließe und diese sich Ausweichrouten nach Deutschland suchten.

Kann es sich die Türkei leisten, das Abkommen aufzukündigen?

Auch wenn Fortschritte bei der Visaliberalisierung oder beim EU-Beitritt angesichts der angespannten Situation derzeit kaum zu erwarten sind, würde Präsident Erdogan damit zumindest die europäische Finanzhilfe aufs Spiel setzen. Denn die noch nicht ausgezahlten gut 5,2 Milliarden Euro fließen ja nur, wenn das Abkommen hält.

Angesichts der Wachstumsschwäche der türkischen Wirtschaft (die Regierung prognostiziert 3,2 Prozent Plus in diesem Jahr, zu wenig für ein Schwellenland) und einer Arbeitslosenquote von fast 13 Prozent, wäre es nicht vernünftig, sich bei der Versorgung der Flüchtlinge vom europäischen Finanztropf abzukoppeln. Ob aber den türkischen Präsidenten noch die Vernunft leitet, darf nach den jüngsten Nazi-Vergleichen bezweifelt werden.

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