Es besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Welt – nicht zuletzt durch die Digitalisierung – immer komplexer wird und die Kanäle, durch die Entscheidungen an einer Stelle ihre Wirkungen auch anderswo entfalten, immer schwerer zu durchschauen sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch politische Maßnahmen zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen führen können, zum Beispiel eine Wirtschaftssanktion gegen unliebsame Länder wie den Iran. Die Antwort lautet: mit jahrzehntelang verwendeten Strategien wie Sanktionsmaßnahmen oder Strafzölle kann man andere Länder zwar immer noch treffen, aber dies nur mit erheblich gestiegenen Risiken und Nebenwirkungen.
Diese Komplexität und ihre Folgen werden klar am Fall der sogenannten globalen Wertschöpfungsketten (GVCs, Global Value Chains). Die wenigsten Produkte werden heutzutage noch an einem Ort hergestellt und dann in die Welt verkauft. In der Regel findet die Produktion in kleine Schritte aufgeteilt an verschiedenen Orten statt. Dabei wird das Produkt in unterschiedlichen Verarbeitungsstufen beziehungsweise einzelne Vorprodukte zwischen den Produktionsstätten transportiert. Diese Aufspaltung der Wertschöpfungsketten bedeutet auch eine Veränderung der internationalen Handelsströme – früher spezialisierten sich die Menschen und Unternehmen in den beteiligten Ländern auf ganze Produktpaletten (Maschinenbau in Deutschland, Bekleidung in China) und tauschten diese Güter aus. Heute spezialisieren sich Standorte (beziehungsweise die dort lebenden Menschen) auf einzelne Aufgaben eines komplexen Produktionsprozesses.
Dadurch hat sich manches im Vergleich zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verändert. Zum Ersten ändern sich Spezialisierungsmuster rascher mit der Folge, dass Wissen schneller abgeschrieben werden muss. Zum Zweiten wird der Außenhandel zunehmend zum Intra-Firmen-Handel. Zum Dritten bedeutet dies, dass Maßnahmen zum Schutz eines Sektors im Inland noch stärker als früher die Wettbewerbsfähigkeit anderer heimischer Sektoren und Unternehmen gefährden, ohne dass man diesen Zusammenhang leicht aus der Produktivitätsstatistik herauslesen könnte.
Dieser kleine argumentative Umweg führt zur These, dass wirtschaftliche Sanktionen oder handelspolitische Maßnahmen als politische Instrumente in ihren Wirkungen überhaupt nicht beziehungsweise nur sehr schwer überschaubar sind. Als Konsequenz daraus steigen die politischen Risiken enorm, wenn Politiker mit einem Weltbild, das eher den 1930ern als dem 21. Jahrhundert entstammt, aggressiv gegen andere Länder vorgehen.
Betrachten wir die US-Sanktionen gegen den Iran, ohne ein Urteil über ihre Sinnhaftigkeit und die Ratio des Ausstiegs der Vereinigten Staaten aus dem Atomabkommen abzugeben. In knapp 90 Tagen werden die USA nach heutiger Sachlage die 2015 beschlossene Einstellung dieser Sanktionen beenden und damit den Iran weiter von den Weltmärkten abschneiden.
Dabei gehen die USA weit darüber hinaus, selber nicht mehr mit iranischen Partnern Handel zu betreiben. Sie drohen damit, auch Unternehmen aus Drittländern, die mit dem Iran handeln, in den USA zu bestrafen. Zugleich ist zu erwarten, dass ab dem 1. Juni ohnehin die Ausnahmen auf die Strafzölle auf europäische Produkte auslaufen und sich zum Beispiel europäischer Stahl oder europäische Kraftfahrzeuge in den USA verteuern werden.
Viele der betroffenen europäischen Unternehmen sind eng in die Wertschöpfungsketten amerikanischer Unternehmen eingebunden. Wenn ihre Produkte durch Strafzölle oder Quoten verteuert oder verknappt werden, schadet dies auch der amerikanischen Wirtschaft (und natürlich den amerikanischen Konsumenten; allerdings haben sich Handelspolitiker noch nie ernsthaft für Konsumenten interessiert). Amerikanische Produkte werden teurer und lassen sich schwerer exportieren. Jobverluste drohen.
Angesichts der bisherigen – von Sachverstand weitgehend ungetrübten – Argumentationskette des amerikanischen Präsidenten und seiner engsten Berater im Hinblick auf die ökonomischen Zusammenhänge um Handel, Zahlungsbilanz und Zollwirkungen muss erwartet werden, dass ein eventueller Einbruch amerikanischer Exporte aufgrund der Sanktionen und Strafmaßnahmen nur weitere solche Maßnahmen erzeugen wird. Ein Teufelskreis könnte in Gang gesetzt werden.





Dieser Teufelskreis wird umso dramatischer, je stärker die Europäische Union als Antwort auf die US-Maßnahmen ihrerseits amerikanische Unternehmen mit Strafzöllen oder -steuern belegt. Amerikanische Unternehmen haben vielfältig in der EU investiert und verdienen gutes Geld damit, das in den USA vielen Menschen gute Einkommen bietet. Diese Einkommen sind ebenfalls gefährdet.
Dies ist alles nicht neu. Die Welt hat in der Vergangenheit mehrfach erfahren müssen, wie Autarkiebestrebungen und Isolation Wohlstand und Frieden gefährdet haben. Neu ist nur, dass enge wirtschaftliche Verflechtungen die Wirkungen von Schutzmaßnahmen und Sanktionen noch unberechenbarer und gefährlicher machen als früher; dies gilt zumindest im Vergleich zur Nachkriegszeit, als es auch gelegentlich protektionistische Rückschläge gab.
Anstatt diese Komplexität in ihrer Politik zu berücksichtigen, suggerieren Populisten wie der amerikanische Präsident, es sei ganz einfach: Man schließe die Grenzen gegen gute und günstige ausländische Produkte, und schon entstehen viele neue Arbeitsplätze und das Land wird wieder groß. Offenbar glauben viele Menschen – nicht nur in den USA – solch billige Heilsversprechen.
Die große Herausforderung an die rationalen politischen Kräfte wird sein, diese falsche Logik mit massentauglichen Argumentationsketten zu entzaubern, ohne sich auf das gleiche armselige moralische und intellektuelle Niveau zu begeben, und dem US-Präsidenten die Stirn zu bieten, ohne Gleiches mit Gleichem zu vergelten.