Freytags-Frage
Quelle: imago images

Wem nützt die Debatte um den Kolonialismus?

Die Menschenrechtsverletzungen aller Kolonialmächte und deren Folgen müssen zur Sprache kommen. Doch darf die Debatte nicht in eine Reinwaschung gegenwärtiger korrupter Regime ausufern.

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Am Dienstag brachte der Fernsehsender Arte eine Reihe von Dokumentationen über die Überwindung des Kolonialismus. Der erste Beitrag widmete sich dem Völkermord an den Herero und Nama durch die deutschen Besatzer im Jahr 1904 und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Drei weitere Filme über den Weg in die Unabhängigkeit überall in der Welt runden das Programm ab.

Diese mediale Aufarbeitung spiegelt eine neuerlich aufgeflammte Debatte über den Kolonialismus und seine Folgen wider. Dabei werden die täglichen und widerwärtigen Menschenrechtsverletzungen aller Kolonialmächte in den Vordergrund gerückt. Dies ist für sich genommen insofern zu befürworten, als dass die alten Kolonialmächte in dieser Beziehung regelmäßig apologetisch argumentieren und sich um eine sachliche und faire Aufarbeitung der Vergangenheit drücken, wenigstens scheinbar.

Die Lage ist allerdings etwas komplizierter. Denn die Debatte um die Folgen der Kolonialzeit hat ebenfalls reale Konsequenzen, die durchaus zwiespältig zu bewerten sind. Dies wurde etwa an der TV-Dokumentation über Namibia deutlich. Dort wurden Vertreter der Nachfahren der ermordeten Herero und Nama befragt, die sich darüber beschwerten, dass die deutsche Regierung ihrer Verantwortung nicht gerecht würde und dass es ihnen wegen der Kolonialzeit heute noch schlecht ginge; man denke nur an die Verteilung des Landbesitzes.

Es ist erstens aber wichtig und richtig zu betonen, dass es in Namibia – zumindest offiziell – keinen neuen Rassismus gegen die Nachfahren der vormaligen Besatzer gibt; die deutschstämmigen Bewohner des Landes werden als ein eigener Stamm betrachtet. Das Zusammenleben aller Namibier scheint im Prinzip friedlich zu verlaufen. Auch hat es keine Enteignungen von Farmern ohne Kompensation gegeben, wie es sie in Simbabwe unter Robert Mugabe gegeben hat. Die Debatte darf nicht dazu führen, eine Spaltung der namibischen Gesellschaft zu befeuern.

Richtig ist auch, dass die Bundesregierung den Völkermord als solchen längst anerkannt hat und in enger Zusammenarbeit mit der namibischen Regierung über weitere Maßnahmen zur Versöhnung berät. Namibia zählt zu den Hauptempfängern deutscher Entwicklungshilfe.

Richtig ist drittens, dass Namibia weiterhin zu den unterentwickelten Ländern zählt. Die meisten Menschen leben in sogenannten Townships; viele haben keinen Zugang zu Strom, fließendem Wasser und Abwassersystemen. Die Einkommens- und Vermögensverteilung ist recht schief. Die Regierung tut sich schwer, Investitionen aus Europa, speziell aus Deutschland, anzulocken. Es geht soweit, dass deutsche Unternehmen, die zur Investition bereit sind, sich regelmäßig frustriert zurückziehen. Auch ist die Korruption weiterhin hoch.

Diese Situation ist nicht auf Namibia beschränkt, auch in manchen anderen, aber nicht in allen ehemaligen Kolonien fällt der Befund ähnlich aus. Einkommen sind im Durchschnitt niedrig und ungleich verteilt, Korruption ist verbreitet, Eigentumsrechte sind zum Teil unzureichend definiert, und Investitionen sind gering. Es gibt aber auch andere Beispiele, man denke an Singapur, Vietnam oder Chile.

Ist diese Situation ausschließlich auf die Kolonialzeit zurückzuführen? Die Antwort kann nur ein klares Nein sein. Denn seit dem Ende der Kolonialzeit sind inzwischen gute 60 Jahre vergangen. Das ist viel Zeit, um Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, die Wirtschaft auf einen Wachstumspfad zu bringen und die Teilhabe der Menschen am Wohlstand zu ermöglichen. Damit ist die Verantwortung der Kolonialmächte für langanhaltende Probleme und tiefe Wunden in der Psyche ganzer Nationen nicht abgelehnt. Es ist nur etwas zu einfach, die heutigen Probleme überwiegend oder gar ausschließlich auf den Kolonialismus zurückzuführen.

Das führt zum wesentlichen Problem der gegenwärtigen Debatte um den Kolonialismus. Denn durch ihren Fokus wirkt sie wie eine Reinwaschung gegenwärtiger korrupter Regime von aller Schuld an den heutigen Problemen. Sie bietet ein bequemes Narrativ für unfähige Regierungen. Und sie bietet keine Lösung. Selbst wenn zum Beispiel die deutsche Regierung Reparationszahlungen an Namibia – entweder an die Regierung oder an spezifische Gruppen – leisten würde, ist das keine Garantie dafür, dass es dem Land in Zukunft besser geht. Ganz im Gegenteil, die Erfahrung mit 60 Jahren Entwicklungshilfe legt nahe, in dieser Hinsicht pessimistisch zu sein.

Deshalb ist es nötig, die Schuld als Kolonialmacht anzuerkennen sowie die Zusammenarbeit in wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht zu vertiefen. Es muss auch klar sein, dass das Schicksal der Menschen in den ehemaligen Kolonien nicht in den Händen der ehemaligen Kolonialmächte liegt. Sonst nützt die Debatte vor allem korrupten Regimen.

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