Streik der Lkw-Fahrer Brasiliens Wirtschaft droht der völlige Stillstand

In der vergangenen Woche begannen streikende Fernfahrer damit, weite Teile Brasiliens lahmzulegen. In ihrem Protest gegen hohe Treibstoffpreise blockierten die Trucker zahlreiche Landstraßen. Quelle: dpa

Seit neun Tagen streiken Brasiliens Lkw-Fahrer, obwohl die Regierung ihre Bedingungen erfüllt. Vor allem die gewaltige Lebensmittelindustrie trifft der Ausstand. Die wirtschaftlichen Schäden werden zur Katastrophe - die Lage könnte sich gar zu einer neuen Schwellenländerkrise in Südamerika entwickeln.

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Als erstes mussten die Hühner geopfert werden. Das Futter für sie war aufgebraucht. 70 Millionen Hühner und Küken wurden seit Beginn des Streiks der brasilianischen Lkw-Fahrer vor neun Tagen bereits notgeschlachtet. Im Netz kursieren Videos, auf denen sich Hühner in den Lege- und Mastbatterien gegenseitig fressen. Die Kühlhäuser der Schlachthäuser sind voll, weil die für den Export bestimmten Schweinehälften und Geflügelteile nicht abtransportiert werden können. Molkereien verfüttern Milch an Schweine. Doch bald dürften auch die ersten Schweine wegen fehlender Nahrung dran glauben.

Brasiliens Lebensmittelindustrie ist eine gewaltige, perfekt eingestellte Export-Maschine, bei der es keinen Ausfall geben darf, weil sonst die gesamte Wertschöpfungskette zusammenbricht. Die Industrie ist darauf eingestellt, täglich 21 Millionen Hühner und 150.000 Schweine zu schlachten und zu verarbeiten.

Doch auch sonst geht nichts mehr in der brasilianischen Landwirtschaft, dem nach den USA größten Lebensmittelzulieferer für den Weltmarkt. Die Zuckerfabriken im Südwesten Brasiliens stehen still, weil es keinen Diesel mehr gibt für die Erntemaschinen. Auch die Zelluloseproduzenten haben ihre Produktion eingestellt. Kein Frachtschiff mit Kaffee, Orangensaftkonzentrat, Soja oder Zucker verlässt derzeit die brasilianischen Atlantikhäfen.

Der Stillstand in der brasilianischen Agroindustrie ist eine Katastrophe für die Wirtschaft, die gerade eine dreijährige Rezession hinter sich gelassen hat. Die letzten Jahre sorgten vor allem die Exporte von Brasiliens Farmen, dass die Konjunktur nicht noch mehr eingebrochen war. Doch nun haben die Investmentbanken wegen des mehr als eine Woche andauernden Streiks die Wachstumsaussichten für dieses Jahr auf unter zwei Prozent herabgesetzt – vor kurzem rechneten sie noch mit drei Prozent Wachstum in 2018. Die jüngsten Konjunkturprobleme sind besonders brisant. Sollte nun nach den Finanzturbulenzen in Argentinien und den Dauerproblemen in Venezuela auch noch Brasilien als größte Volkswirtschaft der Region in Schwierigkeiten kommen, könnte sich das zu einer neuen Schwellenländerkrise in Südamerika entwickeln. „Auch wenn der Streik bald beendet sein sollte, wird der Schaden noch zunehmen“, sagt José Francisco de Lima Gonçalves von Banco Fator. „Es wird dauern, bis die Konsumenten, Investoren und Unternehmer wieder Vertrauen fassen werden.“

Doch derzeit sieht es nicht danach aus, als ob der landesweite Streik bald beendet sein wird. Bereits dreimal ist die Regierung auf die Forderungen der Gewerkschafter eingegangen nach Senkungen der Treibstoffpreise. Inzwischen haben die Trucker garantiert bekommen, dass die Dieselpreise zwei Monate nicht mehr angehoben werden. Sie können künftig Mindesttarife für ihre Speditionsleistungen bekommen. Ihnen wurden Steuererleichterungen versprochen und sogar in einer Sonderausgabe des Amtsblattes der Union noch Mitternacht auf Sonntag veröffentlicht.

Streik in Brasilien: Das Wichtigste in Kürze

Doch vergeblich: Die Mehrheit der Fahrer hält sich einfach nicht daran, was in Brasilia beschlossen wurde. Selbst als die Regierung Donnerstag vergangener Woche damit drohte, das Militär einzusetzen, um die Blockaden zu räumen, bewegten sich die Trucker nicht. Fast überall im fünftgrößten Land der Welt blockieren weiterhin Lkw die Straßen in die Großstädte – und verhindern die Versorgung mit Treibstoffen, Lebensmitteln und Medikamenten. Während die Gewerkschaften ihre Mitglieder dazu aufrufen, den Streik beizulegen, kommen einzelne Fahrer in den Interviews mit immer neuen Forderungen.

Die Lage droht unkontrollierbar zu werden: So fehlen in fast allen Städten Brasiliens inzwischen Benzin, Ethanol und Diesel. Die Tanklaster kommen weder aus den Raffinerien heraus noch zu den Tankstellen hin. Nicht nur privaten Autofahrern fehlt der Sprit. Inzwischen geht er auch Polizei, Feuerwehr und den Krankentransportern aus. Die Busgesellschaften lassen einen Teil ihrer Flotten in den Garagen. Ein Dutzend Flughäfen ist das Kerosin ausgegangen, berichtet der staatliche Flughafenbetreiber Infraero. Etwa fünf Prozent der Flüge werden täglich gestrichen. In den Supermärkten gibt es kaum noch Gemüse und Obst, Milch und Fleisch. In Krankenhäusern werden Dialysepatienten vertröstet. Chirurgische Eingriffe werden verschoben, bis auf Notoperationen.
Fabriken müssen die Arbeiter wegschicken, Universitäten bleiben leer – auf Seite 2 lesen Sie, welche Schäden der Streik anrichtet

Streik der brasilianischen Lkw-Fahrer trifft Ölkonzern Petrobras hart

Nicht nur in der Landwirtschaft, auch sonst in der Wirtschaft beginnt der Streik gewaltige Schäden zu verursachen: Als die Wirtschaftszeitschrift „Valor Econômico“ am Montag in São Paulo ihre jährliche Preisverleihung für die besten Unternehmer nach Branchen abhielt, war die Stimmung gedämpft. Zum Feiern war niemandem zumute. Vom Bildungskonzern Kroton etwa erklärte Rodrigo Galindo, dass inzwischen knapp die Hälfte seiner Universitäten im Land geschlossen hätte, weil weder Lehrer noch Schüler zum Unterricht erscheinen würden.

Die größten Ausfälle meldet die Bauwirtschaft. 40 Prozent der Bauaktivitäten in ganz Brasilien seien gestoppt, heißt es beim Verband. Auch in den Autofabriken des Landes stehen die Bänder still, wegen fehlender Zulieferungen. Die Hersteller von Konsumgütern wie Kühlschränken, Möbel, Kosmetik, Kleidung schicken ihre Mitarbeiter nach Hause und schließen die Fabriken – mit katastrophalen Folgen in der Wertschöpfungskette. Doch derzeit fällt es schwer, das Ausmaß des Schadens genau zu beziffern – weil noch gar nicht absehbar ist, was noch alles passieren könnte: „Das größte Risiko derzeit ist, dass der Streik weiter anhält und auf andere Bereiche der Gesellschaft übergreift“, warnt Candido Bracher, Präsident von Itau, der größten Bank Brasiliens.

Unklar ist jedoch weiterhin, warum die Streikenden nicht die Blockaden beenden, wenn doch ihre Forderungen erfüllt wurden. Zu Beginn des Streiks hieß es, dass ein Teil der brasilianischen Agroindustrie die Streikenden unterstützt: Vor allem die Großfarmer und Händler, denen die hohen Treibstoffpreise die Margen drücken, würden zu den Truckern halten. Auch die Motorradboten in den Großstädten und Betreiber von Schulbussen haben sich den Streikenden angeschlossen und blockieren zusätzlich die Straßen.

Die Regierung vermutet, dass die fünf großen Spediteure Brasiliens hinter den Kulissen den Streik organisieren und die Lkw-Fahrer und ihre Gewerkschaften auffordern, in den Verhandlungen hart zu bleiben – ohne sich selbst daran zu beteiligen. Die Justiz hat angedroht, Strafen zu verhängen, sollten sich Beweise für eine konzertierte Aktion zwischen Gewerkschaften, Fahrern und Transporteuren finden lassen. Doch bisher kam es zu keinen Verhaftungen. Zu Beginn des Streiks zeigte die große Mehrheit der Brasilianer in den sozialen Netzwerken überwiegend Sympathie für die Blockade-Politik. Die Zustimmung schwindet langsam, nachdem die meisten Menschen die Folgen der Versorgungsmängel zu spüren bekommen.

Größter Leidtragender in der Wirtschaft ist der staatlich kontrollierte Ölkonzern Petrobras. Nach den gewaltigen Korruptionsaffären und Missmanagement schien der Ölkonzern wieder auf dem Weg der Besserung zu sein. Doch nun dekretierte die Regierung, dass der Konzern seinen Diesel um zehn Prozent billiger abgeben muss. Auch darf der Konzern die Treibstoffpreise künftig nur noch einmal im Monat an die internationalen Quotierungen für das Fass Öl anpassen, statt täglich wie die letzten zwei Jahre. Für den Eingriff in die Preispolitik des Konzern straften die Investoren den Konzern ab: Petrobras verlor in zehn Tagen rund ein Drittel seines Börsenwertes. Gerüchte halten sich, dass der von der Regierung eingesetzte Manager Pedro Parente zurücktreten könnte, der den Konzern wieder auf Fahrt gebracht hat. Merrill Lynch und Credit Suisse setzen das Risiko von Petrobras wieder eine Stufe herauf. „Die Maßnahmen zeigen, dass Petrobras weiterhin dem direkten Einfluss Brasilia ausgesetzt ist und damit verletzbar bleibt“, sagt Christopher Garman von Eurasia.

Mit dem Absturz der Petrobras-Aktie, dem bisher wichtigsten Blue-Chip in São Paulo, verlor auch die Börse insgesamt seit Streikbeginn rund zehn Prozent. Der Dollar hat sich dieses Jahr bereits ähnlich hoch gegenüber dem Real aufgewertet. Der Streik zeige, wie labil die Lage in Brasilien Wirtschaft und Politik derzeit sei, sagt Analyst Joel Velasco von Albright Stonebridge Group. „Die Regierung ist unfähig, auf die Krise zu reagieren.“ Das gilt jedoch für die gesamte Politik: Abgeordnete, Senatoren, Minister und Gouverneure ducken sich angesichts der schweren Versorgungs-Krise lieber weg. Der Grund: In Brasilien hat der Vorwahlkampf begonnen. Im Oktober werden der Präsident und Teile des Kongresses erneuert. Der geschwächte und unbeliebte Präsident Temer versucht nun, die Krise irgendwie auszusitzen – ihm bleibt kaum etwas anderes übrig, weil er vier Monate vor den Wahlen über keine Mehrheit mehr im Kongress verfügt.

Selbst der vergebliche Versuch, mit dem Ruf nach dem Militär Stärke zu zeigen, erwies sich als Fehlzünder: Es scheint, dass sich die Militärs weigern, die Lkw von den Straßen zu holen. Bisher sind keine Vertreter der Streitkräfte aufgetaucht, um eine der landesweit rund 500 Blockaden aufzulösen. Das Problem: Die Streikenden wissen, dass die schwache Regierung erpressbar ist und noch mehr zu holen ist. Bereits jetzt demonstrieren die Lehrer. Morgen wollen die Ölarbeiter in den Streik gehen. Luiza Trajano, Besitzerin der Einzelhandelskette „Magazine Luiza“ warnt vor einer weiteren Verschärfung des Konflikts: „Brasilien wird nach dem Streik ein anderes Land sein.“

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