Jetzt wird also abgerechnet, endlich. Seit Montagmorgen können in Deutschland lebende türkische Staatsbürger in insgesamt 13 Wahllokalen im ganzen Land ihre Stimme abgeben. Neben den elf konsularischen Vertretungen des Landes warten wegen der großen Nachfrage Urnen zusätzlich in eigens angemieteten Räumen in Fürth und Dortmund.
Die 1,4 Millionen Wahlberechtigten hierzulande haben ab jetzt zwei Wochen Zeit um sich zu entscheiden, ob sich das parlamentarische Staatssystem in der Türkei in ein präsidiales verwandeln soll.
In den vergangenen Wochen hat das Verfassungsreferendum Deutschland und der Türkei eine große diplomatische Krise beschert. Seitdem in der vergangenen Woche zumindest weitere Auftritte türkischer Minister hierzulande abgesagt wurden, ist zwar etwas Ruhe eingekehrt.
Doch einige Fragen stehen nach wie vor ungeklärt im Raum: Was bleibt von den Nazi-Vergleichen des türkischen Präsidenten? Was wird aus dem deutschen Journalisten Deniz Yücel? Und hat Erdogan der ganze Spuk am Ende tatsächlich genutzt?
Denn darauf läuft die derzeit gängigste Deutung der Ereignisse in den vergangenen Wochen hinaus. Erdogan habe den Zoff mehr oder weniger inszeniert, um den Wählern in Deutschland eine Benachteiligung ihrer Heimat vorzugaukeln. Auf diese Weise in ihrem Stolz getroffen würde deren Patriotismus geweckt. Um diesem schließlich Ausdruck zu verleihen, stürmten sie sodann die Wahllokale und gäben ihrem Präsidenten die Stimme.
Die Strategie an sich ist nicht neu. Schon bei vergangenen Wahlen hat Erdogan auf dieses Kalkül gesetzt, mal ist es besser aufgegangen (2015), mal schlechter (2014). Doch nie war die Eskalation so groß wie in diesem Jahr.
Türkei: Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, stimmte das Volk am 16. April in einem Referendum ab. Im Ausland lebende Türken konnten ihre Stimmen vom 27. März bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten geplanten Änderungen.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitsprachrecht.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen.
Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
Ob maximale Eskalation aber auch maximalen Erfolg bedeutet, ist lange nicht ausgemacht. Grundsätzlich gilt zwar wohl nach wie vor: Je größer die Wahlbeteiligung in Deutschland, desto mehr Stimmen kann Erdogan einsammeln. Denn die in Deutschland lebenden Wähler sind strukturell deutlich konservativer eingestellt als in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Spanien, wo die türkische Linke stabile Mehrheiten vorweisen kann. Das liegt vor allem an der Wanderungshistorie. Nach Deutschland und in die Benelux-Länder emigrierten vor allem Türken aus dem ländlichen Raum auf der Suche nach Arbeit. In Frankreich oder Spanien stellen Angehörige des Bildungsbürgertums von der türkischen Westküste die Mehrheit.
Der erste Teil des Kalküls, die Wahlbeteiligung in die Höhe zu treiben, dürfte deshalb aufgehen. Zum einen hat die türkische Regierung in den vergangenen Jahren die Hürden für eine Wahl im Ausland immer weiter gesenkt, das komplizierte System der Registrierung und Anmeldung für zeitlich begrenzte Wahltermine ist entfallen.