Bei der Frage nach den Ursachen für den starken Anstieg der US-Inflationsrate von Ende 2020 bis heute habe ich zunächst den Grund in der aggressiven Geldpolitik der US-Notenbank Fed gesehen – gemäß Milton Friedmans bekanntem Diktum, dass „Inflation immer und überall ein monetäres Phänomen ist“. Auch wenn die Geldpolitik wichtig bleibt, wird allmählich deutlich, dass die Finanzpolitik diesmal wohl einen noch bedeutsameren Einfluss hat.
Von März 2020 bis März 2022 hielt die US-Notenbank die kurzfristigen nominalen Zinssätze bei null, während sie gleichzeitig ihre Bilanz durch quantitative Lockerungen von vier Billionen Dollar auf bis zu neun Billionen Dollar ausweitete. Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die Fed ab Ende 2020, wenn nicht sogar schon früher, weit hinter der Kurve lag. Weil sie erst im Frühjahr 2022 begann, den Leitzins anzuheben, lief ihr die Inflation davon.
Allerdings lockerte die Fed die Geldpolitik im Gefolge der Lehman-Pleite ab 2008 ebenso aggressiv. Sie setzte damals die kurzfristigen Nominalzinsen für den Zeitraum von sieben Jahren (Anfang 2009 bis Ende 2015) auf null Prozent. Die Bilanz der Fed wuchs von 900 Milliarden Dollar im August 2008 auf mehr als vier Billionen Dollar – was damals ein enormer Betrag war. Dennoch blieb die Inflation zahm: Von 2009 bis 2019 lag sie im Durchschnitt bei etwa zwei Prozent pro Jahr. Die Inflationserwartungen blieben in etwa auf demselben Wert verankert.
Fiskalische Theorie des Preisniveaus
Wieso also legte die Inflation ab 2020 so stark zu? Ein offensichtlicher Unterschied zwischen den beiden Zeiträumen ist die massive fiskalische Expansion, die im Frühjahr 2020 als Reaktion auf die Covid-bedingte Rezession einsetzte. Sie umfasste staatliche Transferzahlungen, die die mit der Finanzkrise verbundenen Transfers weit in den Schatten stellten.
Ein Blick auf das Volumen der staatlichen Ausgaben seit dem zweiten Quartal 2020 zeigt das Ausmaß der fiskalischen Expansion. So ergeben sich bis zum ersten Quartal 2022 kumulative Mehrausgaben des Bundes von 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2021. Die größten Zuwächse (in Jahresraten) sind die Ausgaben von neun Billionen Dollar im zweiten Quartal 2020 und sieben Billionen Dollar im dritten Quartal 2020 unter Präsident Donald Trump, gefolgt von jeweils acht Billionen Dollar im ersten und zweiten Quartal 2021 unter Präsident Joe Biden.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Wie sich eine derart expansive Fiskalpolitik auf die Inflation auswirkt, hat der Ökonom John Cochrane von der Hoover-Institution mit seiner fiskalischen Theorie des Preisniveaus gezeigt. Nehmen wir an, die Regierung plant nicht, ihre zusätzlichen Ausgaben durch Kürzungen an anderer Stelle oder durch Steuererhöhungen zu finanzieren. Wenn es zudem keinen formellen Zahlungsausfall bei Staatsanleihen geben soll, bleibt nur noch die Inflation: Sie muss die Staatsschulden real abschmelzen. Dazu bedarf es einer Überraschungsinflation. Das heißt, die Inflationsrate muss über das Niveau steigen, das die Wirtschaftssubjekte erwartet und in die Preis- und Lohnverhandlungen einkalkuliert haben. Und tatsächlich: der über die offiziell angestrebte Inflationsrate von zwei Prozent hinausgehende Anstieg des Preisniveaus beläuft sich von Mai 2020 bis Juli 2022 auf etwa elf Prozent.
Die Schuldenlast wächst
Die nominale Nettoverschuldung der öffentlichen Hand belief sich Mitte 2020 auf 21 Billionen Dollar, das sind rund 91 Prozent des BIP von 2021. In dieser Rechnung sind von der Bruttoverschuldung die Beträge abgezogen, die von staatlichen Treuhandfonds und Bundesbehörden gehalten werden, nicht jedoch die von der Fed gehaltenen Teile der Staatsschuld. Der unerwartete Anstieg des Preisniveaus um etwa elf Prozent senkte den realen Wert der staatlichen Nettoverschuldung um 2,3 Billionen Dollar.
Um die gesamten pandemiebedingten Mehrausgaben des Staates von 4,1 Billionen Dollar durch Inflation zu entwerten, muss der unerwartete Anstieg des Preisniveaus größer ausfallen – in etwa 19 Prozent statt elf Prozent. Daraus ergibt sich: ab Juli 2022 kann die erforderliche Anpassung des Preisniveaus durch eine Inflation von 9,4 Prozent über ein Jahr, 5,7 Prozent über zwei Jahre oder 3,5 Prozent über fünf Jahre erreicht werden. Damit liegt das Ergebnis für fünf Jahre nicht weit von der aktuell an den Finanzmärkten erwarteten Inflationsrate über einen Fünfjahreshorizont entfernt.
Es ist daher plausibel, dass der durch den Covid-19-Schock ausgelöste Anstieg der staatlichen Ausgaben zu einem dauerhaften, unerwarteten Anstieg des Preisniveaus um etwa 19 Prozent führen muss, damit der Staat seine reale Schuldenlast bedienen kann. Vor diesem Hintergrund scheint es denkbar, dass sich die Inflationsrate von aktuell 8,5 Prozent relativ schnell zurückbildet und in den nächsten fünf Jahren im Durchschnitt bei 3,5 Prozent liegt. Dabei gilt es zu bedenken: Auch wenn sich die Inflationsrate wieder zurückbildet, bleibt das Preisniveau dauerhaft erhöht. Damit zeigt sich: Die Hauptverantwortlichen für die aktuell hohe Inflation sind die Finanzminister. Sie haben mit ihrer Schuldenpolitik die Notenbanken unter Druck gesetzt, die Außenstände der Staaten durch steigende Preise zu entwerten.
Übersetzung: Michelle Winner
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