Der Mann, der die bisher größten Chancen hat, nach 16 Jahren Erdogan zu beerben, sitzt gerne mal auf einem Traktor. Das soll Hemdsärmeligkeit und Volksnähe suggerieren. Von dort aus verspricht Muharrem Ince einen höheren Mindestlohn für die Armen, billigere Benzinpreise für die Bauern, eine niedrigere Inflation für die internationalen Investoren, und obendrauf noch ein Industrie-4.0-Programm.
Der 54-jährige Physiklehrer ist Präsidentschaftskandidat der türkischen Oppositionspartei CHP. Die hat solche Bilder dringend nötig – seit Jahrzehnten wird der von Kemal Atatürk gegründeten Partei Elitismus und Arroganz vorgeworfen. Während Erdogan mit seiner AKP die armen, gläubigen Massen ansprach, war die CHP die Wahl der säkularen, gut situierten Türken – und verlor Wahl um Wahl. Das könnte sich nun erstmals seit 16 Jahren ändern. Ince dürfte Erdogan zumindest in eine Stichwahl zwingen. So gut standen die Chancen für die Opposition noch nie.
Von einer Zeit nach Erdogan träumen viele in der Türkei. Dabei wird die wirtschaftliche Misere, die die AKP-Regierung in den letzten beiden Jahren angerichtet hat, das Land noch länger beschäftigen.
Nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom Juli 2016 versorgte die Regierung die Unternehmen mit frischem extra Geld, um ja keine Zweifel am Wachstum der türkischen Wirtschaft aufkommen zu lassen. Die Kredite kommen aus einem eigens dafür eingerichteten Fonds. Das funktionierte, zumindest oberflächlich. Mit 7,4 Prozent wuchs die türkische Wirtschaft im ersten Quartal dieses Jahres, die Inflation liegt bei über 12 Prozent. „Der Fonds war das richtige Instrument 2017“, sagt Murat Salar, Leiter von Azimut Portfoy, der größten privaten Vermögensverwaltung der Türkei. „Aber jetzt müssen wir Wachstum opfern, um die Inflation in den Griff zu bekommen.“
Eigentlich hätten die Wahlen erst im November 2019 stattfinden sollen. Erdogan begründete seine Entscheidung, diese vorzuziehen, mit der Lage in Syrien, die eine stärkere Exekutive nötig mache. Der wahre Grund aber dürfte die wirtschaftliche Lage in der Türkei sein. Denn dass die Geldschwemme nicht ohne Folgen bleiben würde, dürfte zumindest dem rationalen Berater-Team um den stellvertretenden Premierminister Mehmet Simsek klar gewesen sein.