In Mecklenburg-Vorpommern leben etwas mehr als 11.000 Flüchtlinge – bei 1,6 Millionen Einwohnern. Die Flüchtlingskrise hat das Bundesland kaum gefordert. Trotzdem war die Landtagswahl eine Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin. Fünf Lehren aus Schwerin.
1. Die AfD wird zur Volkspartei im Osten
Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres ist die AfD zur zweistärksten Kraft in einem ostdeutschen Bundesland geworden. In Sachsen-Anhalt hatte die Partei im März knapp 25 Prozent der Wähler für sich gewinnen können. Mit knapp 22 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern setzt die AfD ihre Erfolgsserie nun fort. Sollte sie am kommenden Sonntag auch im Stadtstaat Berlin erfolgreich sein, wäre die Partei in allen ostdeutschen Parlamenten vertreten.
Im Herbst 2016 steht damit fest: Die AfD hat sich im deutschen Parteiensystem etabliert, im Osten ist sie sogar eine mittelgroße Volkspartei geworden – zumindest vorerst. Knapp 30 Prozent der Wähler in Mecklenburg-Vorpommern sagten, dass das Thema Flüchtlinge und Integration für sie wichtig gewesen sei, knapp die Hälfte der Wähler hielt das Thema gar für wahlentscheidend. Die AfD hat damit eine Funktion für sich gefunden, die sie von allen anderen Parteien unterscheidet. Sie könnte sich von Alternative für Deutschland zur Alternative für die Flüchtlingspolitik umbenennen. Die Kanzlerin hat ihre Politik der offenen Grenzen zwar längst geändert, die Flüchtlingszahlen sind deutlich zurückgegangen.
Doch Angela Merkel hat ihre Flüchtlingspolitik nie öffentlich und für die Bürger vernehmbar korrigiert oder sie gar bedauert. Die Union kann sich somit nicht darauf verlassen, dass das Protestpotential der AfD in absehbarer Zeit zurückgeht – im Gegenteil: Die AfD wird bleiben und im kommenden Jahr wohl in den Bundestag einziehen.
2. Abrechnung mit Merkels Flüchtlingspolitik – und nun?
Der AfD-Spitzenkandidat setzte am Sonntagabend den Ton für die nächsten Tage und sprach vom „Anfang vom Ende der Kanzlerschaft Angela Merkels“. Ob es das wirklich so ist, lässt sich im September 2016 nicht sagen. Aber selbstverständlich war die Landtagswahl eine Abstimmung über Merkels Flüchtlingspolitik. Und sie muss – wie zuletzt bei den Landtagswahlen im März – einen weiteren Rückschlag hinnehmen.
Wie geht die Union nun mit diesem Ergebnis um? Politikwissenschaftler Werner Patzelt glaubt, dass die Christdemokraten nur dann Wähler von der AfD zurückgewinnen können, wenn sie sich programmatisch anders aufstellen. „Die Union sollte versuchen, im rechten Lager die intellektuelle Hegemonie neu zu erringen. Dafür müsste sie Patriotismus als Integrationsmittel einer Einwanderungsgesellschaft pflegen und beispielsweise als Motto ausgeben: Aus zugewanderten Syrern sollen syrische Deutsche werden - spätestens in der zweiten Generation“, erklärt Patzelt. Die Partei solle sich auch überlegen, ob die doppelte Staatsbürgerschaft diesem Ziel eher nützt oder eher schadet. „Dann hat sie eine gewisse Chance, jetzige AfD-Wähler wieder an sich zu binden“, sagt Patzelt.
SPD behauptet nach Rheinland-Pfalz zweite Staatskanzlei
Kurzum: Die CDU müsste ein bisschen mehr wie die CSU werden. Als Parteivorsitzende hatte Merkel die CDU über Jahre von konservativen Werten weggeführt. Wird sie jetzt tatsächlich den entgegengesetzten Weg einschlagen? Wie sie ihre Partei nun mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 aufstellt, dürfte tatsächlich darüber entscheiden, ob Merkels Kanzlerschaft weitergeht oder im Herbst kommenden Jahres endet.
3. Sigmar Gabriel kann sich freuen – aber nur kurz
Erwin Sellering kennt außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns kaum jemand – und genau das dürfte ihm den Wahlsieg beschert haben. Sellering ist ein Landesvater durch und durch, selten an Bundespolitik interessiert und eben voll auf Mecklenburg-Vorpommern konzentriert. Das haben ihm die Wähler gedankt. Trotz Verlusten in der Größenordnung von fünf Prozentpunkten ist die SPD klar stärkste Kraft geblieben.
Für die SPD im Bund ist das eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Nach Malu Dreyer, Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz, konnte ein weiterer Sozialdemokrat eine Staatskanzlei behaupten. Das zeigt: Wo die SPD den Regierungschef stellt, kann sie weiterhin Wahlen gewinnen. Soweit das Positive. Doch im Bund ist sie eben nur Juniorpartner. Trotz aller Probleme Merkels: Parteichef Sigmar Gabriel hat kaum Aussichten an ihrer Union vorbeizuziehen. Eine Kanzlerschaft ist für ihn nach dieser Landtagswahl nicht realistischer geworden.
4. Bedeutungsverlust der Linken
Zweiter Verlierer des Abends ist die Linke. Sie hat nicht nur knapp sechs Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl 2011 verloren. Viel gravierender: Der Negativtrend aus dem Frühjahr setzt sich fort. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg schaffte sie es gar nicht erst in die Parlamente, in Sachsen-Anhalt musste sie deutliche Verluste hinnehmen. Das zeigt: Im Westen ist die Partei weiterhin nicht etabliert und wird von der AfD ihres Potentials beraubt.
Und selbst im Osten, ihrer Hochburg, verliert sie Wähler an die rechte Partei. Das Führungsduo im Bund, Dietmar Bartsch und Sarah Wagenknecht, hat keine gemeinsame Strategie und keinen Plan gegen den Abwärtstrend. Die AfD hat als Anti-Einwanderungspartei ihre Rolle im rechten Spektrum der deutschen Parteien gefunden. Doch was ist die Funktion der Linken auf der anderen Seite? Wagenknecht probiert es hier und da mal mit nationalen Parolen in der Flüchtlingskrise. Für den Wähler verschwimmt links und rechts somit noch stärker. Fakt ist: Die Partei hat keine linken Antworten auf die Fragen der Gegenwart. Warum sollten Bürger dann links wählen?
5. Grüne und FDP werden zerrieben
Freie Demokraten und Grüne hatten es selten leicht in Mecklenburg-Vorpommern, im Nordosten fehlt beiden eine stabile Kernwählerschaft. Die FDP ist deutlich an der Fünfprozenthürde gescheitert, die Grünen mit 4,8 Prozent knapp.
Beide Parteien müssen sich nun fragen, wie sie sich in Parlamenten mit sechs Parteien und der AfD womöglich als drittstärkster Kraft behaupten können. Für die Grünen ist das dank ihres Öko-Markenkerns einfacher als für die FDP. Denn sie konkurrieren mit der AfD kaum um Wähler. Die Liberalen stehen im Bund derzeit zwischen fünf und sieben Prozent. Viele enttäuschte CDU-Wähler, die nicht für die AfD votieren wollen, geben der FDP ihre Stimme. Eine stabile Kernwählerschaft ist das nicht.
Parteichef Christian Lindner hatte Kanzlerin Merkel in den letzten Monaten immer wieder hart für ihre Flüchtlingspolitik kritisiert, zugleich aber klargemacht, dass seine Partei offen für Einwanderung ist. Viele Wähler nehmen die FDP daher als eine Art „AfD light“ wahr – eine riskante Strategie, die nicht erfolgreich sein muss. Der Wiedereinzug in den Bundestag im kommenden Jahr ist möglich, aber – und das zeigt der heutige Abend – ganz sicher keine Selbstverständlichkeit.