Andrea Nahles (SPD) wollte nichts dem Zufall überlassen. Ihre Gäste – ranghohe Gewerkschafter und Arbeitgeber, Abgeordnete und Wissenschaftler – verließen ihr Ministerium am späten Dienstagnachmittag nach fast sechs Stunden Beratung gerade erst, da trat die Arbeitsministerin bereits vor die Hauptstadtpresse. Und um ganz sicherzugehen, legte sie abends noch mit einem Tagesthemen-Interview nach, um ihre eigene Botschaft zum Rentengipfel zu verbreiten.
Nahles wiederholte dabei immer wieder ihr neues Lieblingswort: Haltelinien. Für November hat die SPD-Frau Pläne einer „ausgewogenen“ Rentenreform angekündigt, genau deshalb lädt sie zum Dialog.
Aber es ist ein schmaler Grat, auf dem die bekennende Kümmerin gerade wandelt: Sie will die gesetzliche Altersvorsorge nicht schlechter reden, als sie ist, gleichzeitig sieht sie aber jede Menge „Handlungsbedarf“. Und der liegt zudem nicht dort, wo ihn zahlreiche Verbände oder die Union verorten. Anders gesagt: Der großen Koalition droht eine Neuauflage der fehlgeleiteten, teuren Rentenpolitik, mit der sie die Wahlperiode begann.
CSU-Chef Horst Seehofer hat seinen Beitrag dazu gewohnt zuverlässig geliefert. Mütter, die vor 1992 Kinder zur Welt gebracht haben, sollen nicht mehr nur für zwei Jahre Erziehung eine Gegenleistung aus der Rentenversicherung bekommen, sondern künftig für drei – so, wie es Eltern mit jüngeren Kindern bereits zusteht.
Das zweite Jahr Mütterrente setzte die Union nach der Wahl 2013 durch. Jetzt spielt der CSU-Chef wieder mit hohem Einsatz: Er pocht darauf, der Angleichung von Ost- und Westrenten nur zuzustimmen, wenn auch die Mütterrente endgültig angeglichen wird.
Altersvorsorge: So viel Rente darf der Standardrentner erwarten
Die Prognosen beziehen sich auf den sogenannten Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer das Durchschnittseinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verdient hat. Die angegebene Bruttostandardrente versteht sich vor Steuern. Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der Renten im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der beitragszahlenden Beschäftigten abzüglich der durchschnittlichen Sozialversicherungsbeiträge an.
Quelle: Rentenversicherungsbericht 2015, Deutsche Rentenversicherung Bund, Stand: November 2015
Beitragssatz zur GRV: 19,9 %
Bruttostandardrente: 1224 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 51,6 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1372 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,7 %
Beitragssatz zur GRV: 18,7 %
Bruttostandardrente: 1517 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 47,6 %
Beitragssatz zur GRV: 20,4 %
Bruttostandardrente: 1680 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 46,0 %
Beitragssatz zur GRV: 21,5 %
Bruttostandardrente: 1824 Euro monatlich
Sicherungsniveau vor Steuern: 44,6 %
Das klingt zwar gerecht, käme aber pauschal einer überdurchschnittlich gut versorgten Generation zugute. Zudem wäre so ein Schritt mit rund 6,6 Milliarden Euro pro Jahr auch überdurchschnittlich teuer. Experten im wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums warnen bereits: „Die Mütterrente und die Rente mit 63 waren schlecht für die Rentenversicherung. Hier sollte keineswegs nachgelegt werden“, sagt etwa Friedrich Breyer, Ökonom an der Uni Konstanz.
Wie lässt sich das Armutszeugnis für Nahles noch abwenden?
Doch genau in die falsche Richtung könnte die neue Debatte laufen, vor allem beim Rentenniveau, dessen „Stabilisierung“ mittlerweile zu einer Art Fetisch für die Regierenden geworden ist. Dabei warnen fast alle Fachleute davor, das eher überschaubare Problem der Altersarmut mit einer breiten und teuren Anhebung der Beiträge bekämpfen zu wollen. Doch bei der Rente geht es eben nicht nur um Sicherheit, sondern mindestens so sehr um Anerkennung von Lebensleistung. Deshalb ist ein wenig mehr für alle politisch viel attraktiver als das Drehen kleiner Schräubchen.
Ihre Vorschläge wird Nahles mit einer neuen, offiziellen Regierungsprognose flankieren. Die soll erstmals Auskunft darüber geben, wie sich der Beitragssatz und das Rentenniveau (das Verhältnis von Standardrente zu Durchschnittslohn) bis 2045 verändern werden. Bislang reicht der Blick nur bis 2030.
Schon jetzt ist klar: Falls nichts passiert, bevor sich die zahlreichen Babyboomer ab 2025 in den Ruhestand verabschieden, dürfte der Beitragssatz über die 22 Prozent vom Lohn steigen, die derzeit gesetzlich als Obergrenze verankert sind. Das Sicherungsniveau wiederum sänke von heute 47,9 Prozent bis Mitte des Jahrhunderts auf unter 42 Prozent. Auch hier würde die gesetzliche Grenze von 43 Prozent klar durchbrochen.
Ringen um den Beitrag
Letzteres wäre ein Armutszeugnis. Und Nahles will es sich nicht ausstellen. Wie aber lässt es sich abwenden?
Nahles hegt Sympathien dafür, die bislang nur bis 2030 fixierten gesetzlichen Limits bis 2045 neu festzuschreiben. Dabei dürfte sie anstreben, mindestens das Niveau von 43 Prozent auf Dauer zu halten – gleichzeitig aber einen höheren Beitragssatz als 22 Prozent zuzulassen.
Die SPD-Politikerin deutet dieses Ansinnen bisher nur an, denn sie weiß, dass es gehörigen Widerstand erzeugen wird. „Sollte der Beitragssatz auf mehr als 22 Prozent steigen, würde das Arbeitgeber und Arbeitnehmer deutlich überfordern – daran ändert sich auch in Zukunft nichts“, kritisiert Alexander Gunkel vom Bundesverband der Arbeitgeberverbände. „Wir warnen ausdrücklich davor, diesen Weg zu gehen.“
Umso ärgerlicher, dass über eine Alternative beim Spitzentreffen so gut wie gar nicht geredet wurde: über ein höheres Renteneintrittsalter. Auch die private Vorsorge oder die Idee, kleine gesetzliche Rentenansprüche nicht voll mit der Grundsicherung zu verrechnen, kamen nur am Rande zur Sprache. Das allerdings wären konkrete Schritte nach vorn.