Mit einem Bekenntnis zu realpolitischen Zwängen und Verantwortungsbewusstsein haben die Grünen ihren Bundesparteitag in Bonn begonnen. Mit den Worten „Ob wir es wollen oder nicht - am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen“, gab die Bundesgeschäftsführerin Emily Büning in ihrer Begrüßungsrede am Freitag den Kurs für die nächsten Tage vor.
„Wir machen Politik für die Realität, die da ist“, betonte die Parteivorsitzende Ricarda Lang. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sagte sie: „Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr Waffen liefern müssen, dass wir schneller werden müssen - die Zeit der Zögerlichkeit ist vorbei.“ Wer deshalb die Rolle der Grünen als Friedenspartei infrage gestellt sehe, müsse wissen, der einzige Kriegstreiber in diesem Konflikt sei der russische Präsident Wladimir Putin.
Der dreitägige Bundesparteitag mit rund 800 Delegierten ist das erste Vor-Ort-Treffen der Grünen seit Beginn der Corona-Pandemie. Überschattet wurde das Treffen der Partei, die tief in der Anti-Atom-Bewegung verwurzelt ist, vom Koalitionsstreit um die Restlaufzeit der letzten drei Atommeiler. Die Parteispitze hatte kurz vor dem Beginn des Parteitages betont, das Ergebnis der geplanten Abstimmung zu diesem Thema sei für die anstehenden Gespräche mit SPD und FDP bindend. „Warum sollen wir sie sonst beschließen?“, antwortete Parteichef Omid Nouripour auf eine entsprechende Frage von Journalisten.
So steht es um die Atommüll-Endlagersuche in Deutschland
Dass es nicht leicht wird, war von Anfang an klar. Aber wie schwer die Aufgabe tatsächlich ist, lässt sich für jeden erahnen, der einmal an einer Info-Veranstaltung zur Suche nach einem Atommüll-Endlager in Deutschland teilgenommen hat. Viele Fragezeichen und kaum verständliche Kriterien. Schon der Name deutet auf einen höchst bürokratischen Prozess hin: Standortauswahlverfahren.
Bis 2031 soll dieses Verfahren abgeschlossen sein. Dann soll Deutschland endlich ein Endlager für hochradioaktive Abfälle gefunden haben. Und sollten die noch bestehenden drei Atomkraftwerke tatsächlich wie geplant Ende des Jahres oder kurz darauf vom Netz gehen und keine weiteren Brennstäbe mehr genutzt werden, bleiben 1900 Behälter mit 27.000 Kubikmetern hochradioaktivem Müll aus der Atomkraft-Ära übrig.
Zur Veranschaulichung: Ein einziger Kubikmeter entspricht dem Raum, den ein Würfel einnimmt, der genau einen Meter lang, breit und hoch ist. Ein Erbe, das noch nicht mal unter Atomkraft-Befürwortern Begeisterung auslöst.
Seit 2017 hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) den Auftrag, die Suche zu organisieren und die Bevölkerung dabei mitzunehmen. Seitdem gab es viele Gespräche – zunächst in Präsenz, dann pandemiebedingt und zur Verärgerung einiger Teilnehmer, die weniger Beteiligung beklagten, auch online.
Die Zahl der Gebiete, die als Endlagerstandorte in Frage kommen, ist seitdem auf 90 Gebiete geschrumpft. Das ist der Stand seit 2020. 54 Prozent der Fläche Deutschlands gelten demnach als für ein atomares Endlager geologisch geeignet. In diesem Herbst will die BGE einen Zeitplan für die nächste Eingrenzung der Standorte vorlegen. Wann genau aus 90 Teilgebieten dann zehn Standortregionen – der nächste Schritt – werden sollen, ist noch unklar.
Viel zu langsam, kritisierte erst kürzlich der Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE), Wolfram König. Die Suche sei ins Stocken geraten, monierte er. Diesen Vorwurf weist die BGE auf Anfrage zurück. Der Prozess schreite „kontinuierlich voran”.
Die BGE arbeite mit „hoher zeitlicher Priorität an der weiteren Eingrenzung der Geologie”. Das Verfahren, zu dem auch die öffentliche Diskussion und die Entwicklung der Methoden gehörten, koste Zeit, die die BGE aber „im Sinne des Verfahrenserfolgs für gut investiert” halte. Der Zeitplan bis 2031 sei „immer sportlich gewesen”, räumt sie aber auch ein. Das Umweltministerium teilt mit, dass er derzeit überprüft werde.
Könnte es also doch noch mal eine Verschiebung auf ein späteres Jahr geben? BASE-Präsident König mahnt dazu, den Prozess nicht weiter aufzuschieben. „Das Suchverfahren in der Schweiz zeigt uns, wie wichtig das Eingrenzen geeigneter Standortregionen auch in Deutschland ist”, sagt er. Je zügiger dies geschehe, desto schneller seien Diskussionen mit der Bevölkerung über den jeweiligen Standort möglich.
Erwartet wurden die Delegierten am Nachmittag in Bonn von einigen Dutzend Demonstranten, die unter anderem gegen den geplanten Braunkohle-Abbau im nordrhein-westfälischen Lützerath und gegen die grüne Wirtschaftspolitik protestierten. Die Kritik an der Entscheidung, die Ortschaft abzubaggern, war auch im Saal sichtbar. Während die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur vorne auf der Bühne über den Ausstieg aus der Kohleverstromung 2030 sprach, hob hinten in der letzten Reihe ein junger Delegierter aus Baden-Württemberg ein Pappschild mit der Aufschrift „Lützi bleibt“ in die Höhe.
Der Parteitag steht unter dem Motto „Wenn unsere Welt in Frage steht: Antworten“. Zu den 1.000 geladenen Gästen zählten die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi und der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm.
Zuerst wollten die Delegierten darüber beraten, welche zusätzlichen Hilfen Leistungsempfänger angesichts der hohen Inflation noch erhalten sollten. Der Bundesvorstand formulierte in seinem Antrag: „Für uns ist klar: Das Bürgergeld muss perspektivisch noch weiter steigen, und eine bedarfsgerechte und inflationsfeste Neuberechnung der Regelsätze muss kommen.“ Die gegenwärtig vereinbarte Erhöhung sei lediglich ein erster Schritt hin zu einer „armutsfesten Grundsicherung“.
Mit dem Bürgergeld will die Ampel-Koalition zum 1. Januar 2023 das Hartz-IV-System in seiner heutigen Form ablösen. Mit ihrem dritten Entlastungspaket Anfang September hatten SPD, Grüne und FDP zudem beschlossen, dass die Regelsätze für die rund fünf Millionen Bezieher der Grundsicherung um 50 Euro steigen sollen. Etwa für alleinstehende Erwachsene steigt er von 449 auf 502 Euro. Künftig soll der Bedarf vorausschauend an die Teuerungsraten angepasst werden.
Um Kernkraft und andere Fragen rund um die Sicherung der Energieversorgung im Winter sollte es auf dem Parteitag erst am späten Freitagabend gehen. Für das Wochenende sind Debatten zum Klimaschutz und zu außenpolitischen Fragen vorgesehen. Dazu gehören beispielsweise umstrittene Rüstungsexporte, etwa nach Saudi-Arabien. Und es geht um die Frage, ob die Bundesregierung laut genug gegen die Niederschlagung der Proteste im Iran protestiert.
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