Dennoch: Die drei Parteichefs sind fraglos die großen Gewinner des Koalitionsvertrags. Allen voran Angela Merkel. Die Kanzlerin ist 2005 als große Reformerin ins Rennen um historische Größe gegangen, gewiss: Deutschland stehe im internationalen Wettbewerb, tönte sie damals, das Land dürste nach Deregulierung, Flexibilität und Veränderung. Nun – niemand hat sich seither so konsequent dereguliert, so flexibel und veränderungsbereit gezeigt wie Merkel selbst. Die Kanzlerin hat die Undefiniertheit der Union definitiv und die Unkonkretheit von Regierungspolitik konkret gemacht. Immer wenn sie davon spricht, dass die Union drei Wurzeln hat – eine liberale, eine konservative, eine christlich-soziale –, erinnern sich die CDU-Mitglieder daran, dass Merkel sie ihrer politischen Heimat beraubt hat. Merkels Führung erschöpft sich (und uns) in situativer, ideell anspruchsloser, bestenfalls pragmatisch-professioneller Politik nach Vorschrift und Geschäftslage. Ein gesellschaftliches Leitbild, ein ordnendes Ziel, der Wille zur politischen Gestaltung – das alles fehlt ihr. Ihre CDU ist geradezu definiert als Dauerregierungspartei, die dem Lauf der Dinge hinterheramtiert, um sich stets auf der Höhe der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung zu befinden. Das ist alles.
Und das ist mehr als genug. Angela Merkels Unberührbarkeit hat in den vergangenen zehn Wochen beinah schon göttliche Züge angenommen. Die große Koalition ist von den Medien ex ante verprügelt, von der SPD-Linken angegriffen und von der CSU unter Bedingungen gestellt worden – allein Merkel stand nie zur Debatte. Gerhard Schröder, Helmut Kohl, Helmut Schmidt, ihre Vorgänger – sie alle hafteten persönlich für ihre Politik, sie alle wurden angegiftet, verhöhnt, zuweilen diffamiert. Merkel nicht. Es ist, als würde sie als eine Art Heiliger Geist ihrer selbst umgehen: unfassbar, unantastbar, erhaben über alle Händel – ganz gleich, ob sie für Atomkraft, den Mindestlohn und die doppelte Staatsbürgerschaft ist oder dagegen. Offenbar fühlen sich die Deutschen gerade deshalb bei Merkel gut aufgehoben, weil sie jedweder Gesinnungsfestigkeit abhold ist.
Die Lizenz zum Regieren
Ihre vornehmste Aufgabe bestünde dann darin, die programmatischen Überspanntheiten der Parteien und Interessenverbände kenntlich zu machen und quasipräsidial zu temperieren. Und diese Aufgabe erfüllt Merkel mit Bravour. Sie personifiziert, ob neben Guido Westerwelle (2009) oder zwischen Gabriel und Seehofer (2013), den Ausgleich, die Mitte – das angenehme Antitestosteron.
Die äußere Ruhe, mit der Merkel in den vergangenen Wochen die öffentlich ausgebreiteten Befindlichkeitsstörungen von politischen Großkalibern wie Hannelore Kraft, Ralf Stegner und Florian Pronold (alle SPD) ertragen hat – das war ja beinahe überirdisch. Noch nie hat die Union in wenigen Wochen so viel verloren wie seit dem Abend ihres Triumphes. Acht Prozentpunkte mehr und ein Minister weniger – das war das eine. Viel schwerer wog, dass die überragende Wahlsiegerin hilflos mit ansehen musste, wie das gesamte Land von den größten aller Wahlverlierer, von den Linken in der SPD, in Geiselhaft genommen wurde. Tatsächlich schauten die Deutschen zum ersten Mal seit der Demission von Gerhard Schröder (2005) mal wieder mit einer gewissen Faszination auf die deutsche Sozialdemokratie. Schauten auf einen Parteitag, bei dem sich die SPD für eine Koalition mit Volker Kauder (CDU) locker machte und zugleich für eine künftige Koalition mit Sahra Wagenknecht (Die Linke). Und schauen jetzt auf die Genossen in Essen-Kupferdreh und Duisburg-Ruhrort, die Gabriel zum Vizekanzler begnaden und Merkel widerwillig die Lizenz zum Regieren erteilen.