Flucht vor dem Krieg Wie Deutschland Ukrainern zu Jobs verhelfen könnte

Flüchtende versuche die Ukraine mit dem Zug zu verlassen. Quelle: imago images

Millionen Menschen sind wegen des Kriegs in der Ukraine auf der Flucht, täglich werden es mehr. Rechtsanwalt Marius Tollenaere erklärt, welche deutsche Regelung ihnen eine Ankunft in der Bundesrepublik erleichtern könnte – und wie es insgesamt um die Migration von Fachkräften steht.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Marius Tollenaere ist Rechtsanwalt und Partner der auf Arbeitsmigration und Fachkräfteentsendung spezialisierten Kanzlei Fragomen Global.

WirtschaftsWoche: Herr Tollenaere, die EU-Kommission will Vertriebenen, die wegen des Kriegs Russlands gegen die Ukraine in die EU kommen, ohne langes Asylverfahren vorübergehenden Schutz für bis zu drei Jahre mit bestimmten Mindeststandards gewähren, dazu zählt beispielsweise eine Arbeitserlaubnis. Ist das ein guter Weg, um den Menschen in diesen schweren Zeiten die Ankunft so leicht wie möglich zu gestalten?
Marius Tollenaere: In der aktuellen Situation geht es zunächst natürlich um humanitäre Hilfe. Es könnte sein, dass die EU zum ersten Mal von der Massenzustrom-Richtlinie Gebrauch macht, mit der unionsweit ein harmonisierter, rechtlich gleichartiger Aufenthalt gewährt werden kann. Flankieren können die Mitgliedsstaaten dies durch nationale Maßnahmen. In Deutschland gibt es außerdem ein Instrument, mit dem bereits Menschen aus einer Region mit hohem Migrationsdruck zum Arbeiten nach Deutschland einreisen können, und für das sich von deutschen Arbeitgebern eine hohe Nachfrage entwickelt hat: die Westbalkanregelung…

…über die Menschen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien seit 2016 eine Beschäftigung in Deutschland aufnehmen dürfen, wenn sie eine Arbeitsplatzzusage des künftigen Arbeitgebers vorlegen und die Bundesagentur für Arbeit zustimmt. Eine bestimmte Qualifikation müssen sie dagegen nicht vorweisen.
Die Bundesregierung könnte darüber nachdenken, diese Regelung flexibel auf andere Regionen auszudehnen, in denen politische Krisen oder wie jetzt ein Krieg den Migrationsdruck erhöhen, und wo andererseits die Fähigkeiten und Interessen der Menschen gut zum deutschen Arbeitsmarkt passen, auf Weißrussland etwa oder eben auf die Ukraine. Auch für russische Staatsangehörige käme dies infrage. Großbritannien beispielsweise hat es ähnlich gemacht, als China das sogenannte Sicherheitsgesetz für Hongkong verabschiedet hat – und den Weg für Menschen aus Hongkong stark erleichtert, nach Großbritannien umzusiedeln.

Man könnte sagen, Großbritannien nützt die Lage dort aus, sich auf Kosten Hongkongs Fachkräfte zu sichern. Wäre das für Deutschland wirklich das richtige Vorgehen?
Das Phänomen Migration besteht aus einem elementaren Rechtegerüst und ist gleichzeitig Gegenstand sicherheits- und interessenpolitischer Erwägungen. Alles, was legale Migrationskanäle weitet, erhöht die Einwanderungsmöglichkeiten des Einzelnen und die Offenheit unseres Landes.

Weiten sollte diese Kanäle vor allem das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, seine Verabschiedung jährt sich gerade zum zweiten Mal. Im ersten Jahr verhinderte die Coronapandemie einen Schub für mehr Zuwanderung von Fachkräften, da Reisen lange Zeit so gut wie unmöglich war. Wie fällt Ihr Fazit heute aus?
Die Aufbauphase ist immer noch im Gange. So empfehlen wir beispielsweise das neue beschleunigte Fachkräfteverfahren, bei dem die Bearbeitungsfristen und der gesetzliche Ablauf normiert sind, bei weitem nicht in jedem Fall. Bei unerfahrenen Ausländerbehörden kann bis zur Vereinbarung des Verfahrens so viel Zeit vergehen, dass es trotz Fristen insgesamt sogar länger dauert, als den Weg über das Normalsystem zu gehen – solange dieses nicht überlastet ist.

Nun haben Sie als Kanzlei, die täglich Dutzende neue Fälle bearbeitet, einen besseren Überblick als Unternehmen, die sich zum ersten Mal die Frage stellen, ob das beschleunigte Verfahren sich für sie lohnt. Was sagen Sie denen?
Dass man leider nur von Fall zu Fall entscheiden kann. Selbst in großen Städten laufen die Verfahren noch nicht immer ganz rund. Beispielsweise weil Behörden ein persönliches Gespräch fordern oder es viele Rückfragen gibt. Bei manchen Behörden kann man die Gebühr auch nicht überweisen, sondern muss hingehen und sie physisch einzahlen. All das verzögert natürlich den Beginn des Verfahrens, selbst wenn dessen Dauer dann genau festgelegt ist.

Zwar ist das beschleunigte Fachkräfteverfahren ein wichtiger, aber nur ein Teil des Gesetzes. Bleibt die Bilanz auch insgesamt mau?
Das Gesetz wurde vor zwei Jahren mit der Botschaft verabschiedet: Jetzt ist Fachkräfteeinwanderung möglich. Rechtlich stimmt das zwar nicht, natürlich war sie das auch davor schon. Aber es zeigt sich doch ein positiver Effekt, ein frischer Wind, das Thema ist sichtbarer – und die Anfragen der Arbeitgeber sind auf jeden Fall da. 

Wie äußert sich dieser positive Effekt genau?
Die neue Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung zum Beispiel ist positiv aufgenommen worden. Auch die Digitalisierung des Verfahrens schreitet fort, im Frühjahr sollen erste Auslandsvertretungen testweise ein Online-Visumsverfahren starten. Bei der Fachkräfteeinwanderung geht es neben Rechtlichem viel darum, wie die Prozesse aufgesetzt sind. Und da nehme ich wahr, dass sich der Aufwand lohnt.

Die neue Bundesregierung will für Arbeitskräften laut Koalitionsvertrag nun „neben dem bestehenden Einwanderungsrecht mit der Einführung einer Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems eine zweite Säule etablieren“, damit sie zur Jobsuche Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Ist das der große Wurf, um endlich Hunderttausende Fachkräfte im Jahr ins Land zu locken?
Nach aktueller Gesetzeslage gibt es bereits umfangreiche Möglichkeiten, um in Deutschland auf Jobsuche zu gehen. Wie stellen wir uns eine Fachkraft vor, die einfach so in ein anderes Land migriert und sagt: Ich breche hier alles ab und schaue mal, was dort passiert – und die sich das mehrere Monate leisten kann? Die vergangenen zwei Jahre haben gezeigt, dass Menschen, die den Gedanken haben, in ein anderes Land zu gehen, sich gezielt bewerben. Eine solche Chancenkarte ist eine nette Spielerei. Dass dadurch die Zahlen einwandernder Fachkräfte explodieren, sehe ich nicht. Größere Strahlwirkung für die Arbeitsmigration erwarte ich von den Plänen der Bundesregierung zur doppelten Staatsbürgerschaft.

Die Ampelkoalition will eine Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen. Warum wäre das wichtig?
Viele Menschen würden gerne die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, da sie hier ihre Arbeit und ihren Lebensmittelpunkt haben. Aber sie tun es nicht, weil sie sich von ihrer Herkunftsstaatsbürgerschaft lösen müssten, die emotional wichtig für sie ist. Dann ist das das Ende der Integration. Eine echte Willkommenskultur macht das anders. 

Was sollte die Bundesregierung außerdem tun?
Das Anerkennungsrecht vereinfachen – es ist ein stärkerer Migrations- und Integrationshemmer als das Migrationsrecht selbst. Wir hängen in Deutschland sehr stark an formalen Abschlüssen und weniger an echten Qualifikationen. Da stellen sich vor allem zwei Fragen. Erstens: Müssen wir wirklich für alle Abschlüsse die Universität und den Abschluss selbst auf Vergleichbarkeit hin überprüfen? Ich spreche hier nicht von Ärzten, sondern beispielsweise von einem indischen Entwickler, den ein deutscher Spielehersteller aus 23 Bewerbern ausgewählt hat und einstellen will. Hier trägt der Arbeitgeber das Risiko – und der Staat schreibt bereits eine Benachrichtigungspflicht vor, sollte der Arbeitgeber den Entwickler doch nicht übernehmen. So kann der Staat seinem Sicherheitsbedürfnis nachkommen.

Und zweitens?
Können wir uns davon verabschieden, Fachkräfte auf Ausbildungsniveau mit dem deutschen dualen System zu vergleichen – und stattdessen fähigkeitsbasierte Prüfungssysteme einführen? Nur so würden wir uns einen großen Pool von Zuwanderern eröffnen, die wir haben wollen.

Mehr zum Thema: Zehntausende Menschen sind in der Ukraine auf der Flucht. Neben humanitärer Hilfe geht es auch um Integration, erklärt Ökonom Herbert Brücker.     

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%