
Union und SPD machen bei ihrem Versuch zur Beilegung des Streits über den Elternnachzug minderjähriger Flüchtlinge offenbar Fortschritte. Die Koalitionspartner zeigten sich am Dienstag offen für sogenannte Einzelfallprüfungen. Grundlage dafür könnte eine Härtefallklausel sein, die sich bereits in der vom Kabinett verabschiedeten Gesetzesfassung befindet, wie es aus Parteien und Regierung hieß. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt forderte die SPD auf, ihren Widerstand endlich einzustellen.
"Besondere Härten können aus meiner Sicht dadurch vermieden werden, dass man im Einzelfall aus humanitären Gründen den Familiennachzug zulassen kann", sagte der innenpolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Stephan Mayer. Änderungen am Gesetzentwurf werde es aber nicht mehr geben. Zuerst ins Gespräch gebracht hatte eine solche Einzelfall-Lösung SPD-Chef Sigmar Gabriel bei einer Veranstaltung der SPD Hamburg-Altona am Montagabend. Nach Angaben von Teilnehmern verwies der Vizekanzler darauf, dass es einen Unterschied mache, ob ein Neunjähriger ohne Eltern eingereist sei oder ein fast 18-jähriger, der von seiner Familie vorgeschickt worden sei.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Das Kabinett hatte vergangene Woche das Asylpaket II verabschiedet. Darin ist vorgesehen, dass für Menschen mit einem nachrangigen (subsidiären) Schutz der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt wird. Während nach Ansicht der Union auch Minderjährige davon betroffen sind, lehnt die SPD das ab. SPD-Chef Sigmar Gabriel sorgte für Unmut bei der Union mit der Äußerung, dies sei mit ihm nicht abgesprochen. Nach Ansicht des SPD-geführten Familienministeriums steht dem auch internationales Recht - etwa die UN-Kinderrechtskonvention - entgegen.
Die Grundlage für eine Einzelfallprüfung steht auf Drängen der SPD bereits in der aktuellen Gesetzesfassung. Demnach sind "humanitäre Aufnahmen von Familienangehörigen" nach dem Aufenthaltsgesetz weiterhin möglich, "soweit die jeweiligen Voraussetzungen vorliegen". Schaffen es beide Seiten, sich auf eine gemeinsame Auslegung zu verständigen, müsste das Gesetz nicht unbedingt verändert werden.
CSU-Landesgruppenchefin Hasselfeldt sagte, es gebe keinen Grund von der beschlossenen Aussetzung des Familiennachzugs für zwei Jahre abzurücken. "Die SPD muss ihren Widerstand endlich aufgeben und der Aussetzung des Familiennachzugs ohne Ausnahmen zustimmen." Die Aussetzung des Familiennachzugs sei beschlossen. "Es gibt keinen Grund, von dieser Einigung abzurücken", sagte die CSU-Politikerin. Die Koalition brauche nicht noch mehr Diskussionen, sondern klare Signale, so Hasselfeldt. "Die neuerlichen Querelen um das Asylpaket II sind deshalb äußerst ärgerlich." Die Menschen erwarteten zurecht von der Koalition, dass sie handelt und "nicht hampelt".
Keine Gefahr, dass Familien Kinder losschickten, sondern "eine Realität"
Der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck, kritisierte den Koalitionsstreit um den Familiennachzug minderjähriger Flüchtlinge nach Deutschland. Neudeck sagte am Dienstag dem Radiosender MDR Info, die Jugendlichen könnten „natürlich ohne ihre Familie in Deutschland aufwachsen“. Sie bekämen eine gute Ausbildung, lernten einen Beruf und können dann sehen, wie sie ihre Zukunft machten. „Es ist nicht die unbedingte Voraussetzung, dass der Familienclan aus Kabul oder Kandahar dann hierher nachkommt“, sagte Neudeck.
Neudeck sagte, es sei „nicht zu fassen, was die Parteien da anrichten“. Alle seien sich bewusst, dass Flüchtlingszahlen begrenzt werden müssten. „Wir wissen, dass es ganz wenige Möglichkeiten dazu gibt. Eine davon ist die Begrenzung des Familiennachzugs für unbegleitete Minderjährige“.
Wenn die Politik das nicht tue, müsse sie dem Volk sagen, „dass es keine Rücknahme der Flüchtlingszahlen gibt in den nächsten Monaten“. Die Schlepperbanden wüssten auch von den Diskussionen in Deutschland sehr genau. Sie sammelten unbegleitete Kinder von 12 bis 18 Jahren „und schaffen damit ein neues großes Kontingent, das zu uns kommt“. Es sei „keine Gefahr, es ist eine Realität“, dass Familien Kinder losschickten in der Hoffnung, später nachkommen zu können.
Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und sein Justizkollege Heiko Maas (SPD) suchen seit dem Wochenende nach einer Einigung. Ein Sprecher de Maizieres sagte, die Gespräche verliefen "vernünftig und vertrauensvoll".
Im Kern geht es um eine kleine Gruppe von Betroffenen. Im Jahr 2014 fielen insgesamt 214 Jugendliche unter den subsidiären Schutz, 2015 waren es 105, wobei aber viele Verfahren noch nicht bearbeitet sind. Laut Familienressort wurde im vergangenen Jahr 442 Eltern eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erteilt.