Freytags-Frage
Quelle: dpa

Ist die Rente mit 70 wirklich ungerecht?

Arbeiten bis 70? Wie gerecht der Vorschlag ist, das Rentenalter zu erhöhen und welche anderen Möglichkeiten es gibt. Eine Kolumne.

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Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, hat mit seinem Vorschlag, das Renteneinstiegsalter schrittweise auf 70 Jahre zu erhöhen, einen alten Hut produziert. Die Bundesbank hat vor einigen Jahren in diese Richtung argumentiert, viele Experten aus der Wissenschaft haben sich dem angeschlossen. Dennoch hat der neuerliche Vorstoß für Wirbel gesorgt. In unflätiger Weise hat die Linkspartei den Vorschlag kommentiert, andere haben sich gewählter ausgedrückt, aber dasselbe gesagt: Generell war von Ungerechtigkeit die Rede. Man könne die Probleme des demographischen Wandels nicht auf den Rentnern abladen, hieß es.

Die erste Frage, dies sich einem angesichts dieser Aussage stellt: auf wen denn sonst? Sollen diejenigen, die zum demographischen Wandel nichts beigetragen haben, die Lasten desselben allein tragen? Ist das gerechter? Man fühlt sich an den Cartoon von Greser und Lenz aus dem Jahr 2006 erinnert, auf dem eine ganze Gruppe von Rentnerinnen und Rentner auf einem Spielplatz zwei Kinder anraunzt: „Warum seid Ihr nur so wenige, Ihr Blödmänner?!“.

Es müsste doch auch bei den Gewerkschaften oder der Linkspartei einsichtig sein, dass für den demographischen Wandel in einer kollektiven Betrachtung diejenigen verantwortlich sind, die weniger Kinder als ihre Vorgängergeneration bekommen haben; das gilt nicht auf der individuellen Ebene, denn individuelle Entscheidungen über Kinder lassen sich überhaupt nicht beurteilen. Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, dann müssten doch eher die Rentner selber zur Verantwortung gezogen werden. Auch das ist im Einzelfall nicht gerecht. Vielleicht ist Gerechtigkeit überhaupt keine sinnvolle Kategorie. Insofern ist die Gerechtigkeitsdebatte ein reines Ablenkungsmanöver.

Dennoch muss die grundsätzliche Frage, wie der demographische Wandel bewältigt werden soll – wenn wir unseren Wohlstand aufrechterhalten und auch noch die drängendsten Zukunftsprobleme lösen wollen –, gestellt und vor allem endlich beantwortet werden. Bislang hat sich die Politik um dieses Thema, das bereits eines war, als ich mein Studium vor über 35 Jahren aufnahm, weitgehend gedrückt. Es gab eine Ausnahme; das war der Sozialminister Müntefering in der ersten sogenannten Großen Koalition, der eine schrittweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre einführte. Die zweite sogenannte Große Koalition hat dann dafür gesorgt, dass ihre Wähler ohne Rentenabschlag mit 63 Jahren in den Ruhestand – und vermutlich in großem Stil auf Kreuzfahrten – gehen konnten.

Anstatt eine ernsthafte und ehrliche Rentendiskussion zu führen, und für langfristige Nachhaltigkeit des deutschen Alterssicherungssystems zu sorgen, gibt der Bund Jahr für Jahr über 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt aus, um die Rentenbeiträge beziehungsweise die Renten stabil zu halten. Ändert sich daran oder am Renteneintrittsalter nichts, werden diese Zuschüsse schon in wenigen Jahre etwa die Hälfte des Staatshaushaltes ausmachen. Die Sozialpolitiker – aber auch die linke Opposition – scheinen zu glauben, dass die Menschen dies als Geschenk ansehen. Erstens ist es kein Geschenk, und zweitens erkennen gerade die jüngeren Bürger dies auch. Vor dem Hintergrund einer Gerechtigkeitsdebatte kann man das als eine versteckte Erhöhung der Rentenbeiträge (aber ohne eigene Ansprüche der Zahlungspflichtigen) interpretieren. Gerecht ist es auch nicht!

Man kann es drehen und wenden, wie man will. Eine alternde und schrumpfende Gesellschaft hat drei Stellschrauben in ihrem Alterssicherungssystem: Man kann erstens das Renteneintrittsalter heraufsetzen. Das schlägt der Arbeitgeberpräsident vor. Alternativ kann man die Rentenauszahlungen reduzieren. Oder man erhöht die Rentenbeiträge. Denkbar ist natürlich auch eine Mischung aus diesen drei Stellschrauben. Indirekt geht die Bundesregierung diesen Weg, ohne es zu sagen, wenn sie Steuermittel zur partiellen Deckung der Rentenauszahlungen verwendet, die Rentenbeiträge immer mal wieder leicht erhöht und das Renteneintrittsalter – wie unter Minister Müntefering geschehen – leicht anhebt.

Keine dieser drei reinen Lösungen sind politisch attraktiv. Dennoch kann sich die Politik (gemeint ist auch die Opposition) nicht mehr davor drücken. In drei Jahren etwa gehen die ersten Jahrgänge der Babyboomer-Generation in Rente. Spätestens dann kommt es zum Schwur. Das gilt umso mehr, da die dadurch steigende Belastung der Rentenkasse mit einer Verschärfung des jetzt schon bestehenden Arbeitskräftemangels in allen Sektoren – aber zuvorderst in den Sozialberufen und im Handwerk – einhergeht.

Da macht es doch Sinn, dass diese Generation, die ja im Übrigen auch gesünder ist als alle Generationen vor ihnen, noch etwas länger arbeitet, zumindest im Durchschnitt. Wichtig sind dabei die Flexibilität und die Möglichkeit für die in körperlich sehr anstrengenden Berufen Arbeitenden, ohne nennenswerte Abschläge vorzeitig in den Ruhestand zu treten. Dafür geeignete Kriterien zu finden, sollte doch ein Land, das einen wesentlichen Teil seiner Energie in die Bürokratisierung aller Lebensbereiche steckt, hinbekommen. Aber dass Akademiker und Angestellte ohne Hochschulabschluss etwas länger arbeiten, sollte doch kein Problem sein. Denkbar ist auch weiterhin die Wahlmöglichkeit zwischen der abschlagsfreien Rente mit 70 (oder 69) und dem vorzeitigen Ruhestand mit 67 (oder 65). Dies wäre im Grunde wie bisher auch.

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Wichtig jedoch ist ausschließlich, dass eine Rentendebatte geführt wird, und dies ohne billige Polemik und unsachgemäßen Vereinfachungen. Die Aussage, Rente mit 70 sei ungerecht, ist kein Debattenbeitrag, den man ernst nehmen kann, sondern eine Nebelkerze, um die Diskussion zu beenden. Gerade die Jüngeren haben es verdient, dass wir das Problem des demographischen Wandels endlich als solches begreifen und anpacken.

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