Historiker Thomas Schlemmer „Markus Söder ist ein Performer“

Ein Performer? In der Coronakrise haben sich Markus Söders Popularitätswerte besonders stark entwickelt. Quelle: ddp images

Der Historiker Thomas Schlemmer erforscht die Rolle Bayerns in der Bundesrepublik. Ein Gespräch über Strategie, Selbstbewusstsein und die Auswirkung eines Impfstoffs auf die Popularität von Markus Söder.

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WirtschaftsWoche: Herr Dr. Schlemmer, ist Bayern ein besonderes Stück Deutschland, wie es die CSU und auch viele Einwohner behaupten?
Thomas Schlemmer: Bayern ist besonders, weil die bayerische Geschichte eine besondere ist. Aber viele andere Teile Deutschlands sind auch besonders mit eigenen Territorialgeschichten und politischen Kulturen. Bayern kann kein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen. Die CSU versucht, aus dem Gefühl des Besonderen politisches Kapital zu schlagen, indem sie das „Wir“ vor allem in Konfliktsituationen immer wieder gegen die „Anderen“ in Stellung bringt, um die eigenen Reihen zu schließen, Wählerkonsens zu schaffen und möglichst große Erfolge einzufahren.

Beherrscht die CSU also nur ein besonders gutes Narrativ?
Bayern und die CSU sind im CSU-Narrativ immer eins. Das hat tatsächlich keine andere Partei geschafft. Sie stellt sich glaubhaft als die Partei dar, die das schöne Bayern erfunden hat, den Wohlstand Bayerns mehrt und das Land repräsentiert.

Bei der Gründung der Bundesrepublik gab es auch in anderen Ländern Regionalparteien. Warum hat die CSU ein so großes Gewicht behalten?
Das hat auch damit zu tun, dass Bayern als einziges Land 1945 seinen Staatscharakter wahren konnte. Die anderen Bundesländer wurden ja in der Regel aus verschiedenen Teilregionen zusammengesetzt. Man sieht das immer noch an den Namen wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen. Das sind alles Teile von anderen, meist größeren Territorien, namentlich von Preußen. Die haben zwar auch eigene Regionalgeschichten, konnten sie aber nicht verbinden mit einer Geschichte von Staatlichkeit, wie sie in Bayern zumindest zurückreicht bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.

von Daniel Goffart, Karin Finkenzeller, Dieter Schnaas

Wenn von der Besonderheit Bayerns die Rede ist, ist oft der besondere Erfolg gemeint. Ist Bayern tatsächlich erfolgreicher als andere Bundesländer?
Wenn man bestimmte Kenndaten nimmt wie das Bruttoinlandsprodukt oder die Bevölkerungsentwicklung, dann kann man sagen: Bayern gehörte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu den Armenhäusern der Republik, war stark agrarisch geprägt mit einigen industriellen Inseln, von denen man noch nicht wusste, wie sie sich entwickeln würden. Es war eher ein Abwanderungs- als ein Zuwanderungsland. 50 Jahre später, um das Jahr 2000 herum, ist Bayern überall im Ländervergleich vorne dran. Da kann man schon von einer positiven Entwicklung sprechen, selbst wenn die natürlich auch einige Schattenseiten mit sich bringt.

Ist der Anteil der CSU an der Erfolgsgeschichte so groß wie behauptet?
Nein. So einfach ist das nicht. Wenn man sich die Entwicklung von Teilen Baden-Württembergs oder Schleswig-Holsteins ansieht, dann wird man auch da sehen, dass es Prozesse nachholender Industrialisierung gab in primär agrarisch geprägten Regionen. Oder wenn man in andere Teile Europas schaut. Namentlich in Norditalien kann man ähnliche Entwicklungen sehen. Das ist ein Entwicklungsweg im 20. Jahrhundert, den auch Bayern gegangen ist und der wesentlich von den Rahmenbedingungen abhing. Das hat zu tun mit der Entwicklung bestimmter Industriezweige, der europäischen Integration oder mit der Frage von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.

Wer hat die Rahmenbedingungen gesetzt?
Die Rahmenbedingungen setzten sich zum Teil selbst, oder besser: Sie resultierten aus einem Bündel längerfristiger Entwicklungen. Die Rahmenbedingungen für das „Wirtschaftswunder“ der 1950er und 1960er wurde nicht von Ludwig Erhard geschaffen – der sie freilich zu nutzen wusste –, sondern hatten mit den spezifischen Bedingungen im Nachkriegs-Europa zu tun: Mit dem Wiederaufbau und der Beseitigung von Kriegsfolgen, mit den transatlantischen Verflechtungen, die im Zeichen den Kalten Krieges wuchsen. Sie hatten auch damit zu tun, dass die Bundesrepublik in diesem neuen militärischen und wirtschaftlichen Bündnis ihren Platz erst finden musste. Diese Entwicklungen setzten auch den Rahmen für die Politik in Bayern. Den daraus entstehenden Spielraum wussten alle Staatsregierungen in Bayern zu nutzen, die insbesondere dem Paradigma der Erschließung und Industrialisierung des ländlichen Raums folgten. Infrastruktur- und Industriepolitik sind seit den 1950er Jahren Konstanten bayerischen Regierungshandelns.

von Karin Finkenzeller, Cordula Tutt

Also ist der Erfolg nicht nur Zufall, sondern zumindest auch Ergebnis geschickten politischen Handelns?
Die CSU stellte bis auf zwei Ausnahmen nach 1945 die Ministerpräsidenten. In dieser langen Linie folgte die Partei immer einer doppelten Maxime. Die eine Maxime ist die Verbesserung der Lebensverhältnisse in der ländlichen Flächen Bayerns, wo auch die Masse ihrer Anhängerschaft zu Hause ist. Damit verbunden ist eine Stärkung der Wirtschaftskraft Bayerns durch Infrastruktur- und Industriepolitik. Und dem verstärkten wirtschaftlichen Gewicht folgt ein zunehmendes politisches Gewicht. Die Industrie- und Strukturpolitik, die die CSU seit den 1950er Jahren verfolgte, hatte immer auch eine föderalistische Komponente. Nur ein wirtschaftlich starkes Land kann auch politisch Gewicht in die Waagschale werfen.

War es auch von Vorteil, dass Bayern keine nennenswerte Kohle- und Stahlindustrie hatte, die ab den 1970er Jahren in anderen Teilen Deutschland zu wirtschaftlichen Problemen führte? Oder dass das Erbe der Nationalsozialisten die Basis für die Luftfahrt- und Rüstungsindustrie schuf?
Das ist weitgehend vergessen: Dass es Wurzeln dieses bayerischen Wegs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt, die schon in die 1920er Jahre und dann ganz stark in die nationalsozialistische Rüstungs- und Kriegspolitik zurück reichen. Bayern war lange Zeit von den alliierten Bomberflotten nur unter hohem eigenen Risiko erreichbar. Deshalb sind viele auch zukunftsträchtige Produktionsanlagen vor allem aus dem Westen des Reiches in den Süden verlagert worden. Manches ist dann auch aus Industriegebieten, die später in der sowjetischen Besatzungszone lagen, nach Bayern verlegt worden.

Wie Audi in Ingolstadt?
Audi, die damalige Auto Union, ist das beste Beispiel dafür – in Sachsen enteignet und demontiert. Die Führungsmannschaft hatte schon während des Kriegs die Gemeinde Sandizell in der Nähe von Ingolstadt als Treffpunkt ausgemacht, wo auch wichtige Papiere wie Patente und Konstruktionspläne gelagert wurden. Man wollte zwar ursprünglich nach München. Doch München war zu stark zerbombt, und auch die Konkurrenz von BMW war stark. Also ist man in Ingolstadt ansässig geworden. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Beispiele, Konzernzentralen wie etwa die von Siemens, die von Berlin nach München übersiedelten und so München zur Hauptstadt von gewichtigen Dax-Konzernen machten. Bayern ist, wenn man so will, sowohl ein Gewinner der Kriegswirtschaft als auch ein Gewinner der deutschen Teilung.

von Karin Finkenzeller

In einer Ihrer Forschungsarbeiten über die CSU schreiben Sie: „Größer noch als der Erfolg der Partei war stets das Selbstbewusstsein führender CSU-Politiker.“ Worauf beziehen Sie sich?
Mir ist ein Zitat von Erwin Huber in die Hände gefallen, der 1994 als CSU-Generalsekretär in einem Interview sagte, die Wittelsbacher hätten in Bayern 800 Jahre regiert, da sei für seine Partei ja noch viel drin. Ich finde es schon sehr bezeichnend, dass sich eine demokratische Kraft in eine Linie mit der ja großteils absolutistisch regierenden Wittelsbacher-Dynastie stellt – und den eigenen Wahlerfolg als gleichsam natur- und gottgegeben darstellt. Das Interview hatte er dem Spiegel gegeben, und er bediente natürlich auch Klischees, die man dort hören wollte, wohlwissend, dass ironische oder gar selbstironische Untertöne aus Bayern in Hamburg oft überhört werden.

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