Schon vor Corona gab es zunehmende Polarisierungstendenzen in der Weltwirtschaft. In Deutschland sank bereits die Investitionsquote. Digitalisierungsdefizite in der öffentlichen Verwaltung waren offenkundig. Standortschwächen nahmen zu. Dann kam Corona – und mit Corona eine massive Zunahme staatlicher Aktivitäten und ein rasanter Anstieg der öffentlichen Verschuldung. Beides war in der Ausnahmesituation der Pandemie im Grundsatz schlüssig und im wortwörtlichen Sinn notwendig. Klar ist aber: Nach Corona darf sich das nicht so fortsetzen. Ein Zurück zu der Vor-Corona-Zeit ist auch keine Alternative.
Corona hat uns um viele Erfahrungen klüger gemacht. Das hilft jetzt bei der Formulierung der Agenda für den Standort Deutschland – drei Beispiele: 1. Durch die Offenlegung teils haarsträubender Digitalisierungsdefizite der öffentlichen Verwaltung sind diese nun wirklich allen bewusst. Deren Überwindung kann niemand mehr auf die lange Bank schieben. Der digitale Impfpass ist ein Hoffnungssignal. Andere müssen folgen. 2. Die aus der Not geschaffenen Möglichkeiten für virtuelles Arbeiten zeigen, dass vieles möglich ist, was vorher undenkbar schien. Flexibilisierung und hybride Lösungen werden im Sinne eines „new normal“ vielfach zum Standard werden. 3. Die grandiose Erfolgsgeschichte von Biontech zeigt, wie wichtig es ist, Freiräume für die Entwicklung völlig neuartiger Technologien – in diesem Fall der mRNA-Technologie – zu wahren, statt Forschungspfade durch die regulatorische Festlegung auf ausgewählte Technologien zu verbauen.
Wenn wir als Industrie jetzt den Dialog mit der sich neu aufstellenden Politik in Deutschland darüber führen, was zur Ertüchtigung des Standorts Deutschland erforderlich ist, geht es um Inhalte – allen voran Klimaschutz und CO2-Neutralität. Es geht aber auch um ordnungspolitische Aspekte. Beides gehört zusammen, wenn wir in unserer weltwirtschaftlichen Vernetzung effizient und erfolgreich bleiben und dem Standort Deutschland mehr Schubkraft geben wollen.
Der globale Rahmen verändert sich durch das Vordringen staatskapitalistischer Modelle. Das Nachahmen von Methoden wie im hochdynamischen China kommt für uns nicht infrage. Das widerspräche unserem gesellschaftspolitischen Modell fundamental. Äquidistanz zu China und den USA wäre ein Irrweg. Der G7-Gipfel mit dem klaren Bestreben der Teilnehmer, den Schulterschluss der von einem westlichen Gesellschaftsverständnis geprägten Länder wieder herzustellen, war ein notwendiges und erfreuliches Signal. In Deutschland verfügen wir mit der sozialen Marktwirtschaft über die passende institutionelle Grundlage, die Freiheit, Flexibilität und den Raum für ständige Erneuerung bietet. Ausufernde Regulierung und eine Verbotskultur sind damit nicht vereinbar – auch nicht auf dem Feld, das die technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der kommenden Jahrzehnte prägen wird: dem Klimaschutz.
Der Bundestag wird nächste Woche ein eilends verfasstes neues Klimaschutzgesetz beschließen, in dem das Ziel Klimaneutralität nochmals fünf Jahre vorgezogen wird auf 2045. Offen bleibt der Weg dahin. Wie problematisch ein solch vager Beschluss ohne klaren Zielpfad ist, macht ein Beispiel deutlich: Komplexe Industrieanlagen haben oft eine Nutzungszeit von über 20 Jahren. Vorher müssen sie geplant, genehmigt und errichtet werden. Das heißt: Konkrete Weichenstellungen dafür, wie Industrie 2045 aussehen wird, stehen heute an. Dafür fehlen aktuell verlässliche Grundlagen und der regulatorische Rahmen. 2045 ist nicht ferne Zukunft, ist nicht übermorgen, ist auch nicht morgen: sondern für manchen Investor schon morgen früh.
Klimaneutralität per Gesetz vorzuschreiben reicht nicht. Konkretisierung tut not. So können wir unsere Werke nur mit grünem Strom betreiben, wenn viel mehr Solaranlagen, Windparks und Stromtrassen entstehen. Industrieanlagen können nur mit Wasserstoff betrieben werden, wenn der verlässlich verfügbar ist – nicht erst 2045, sondern in den kommenden Jahren. Das ist eine Frage von Mengen, Netzen und einer gesicherten Importbasis. Denn es ist völlig klar, dass wir auch in Zukunft einen Großteil unseres Bedarfs importieren müssen – als Strom und Wasserstoff.
Der erforderliche enorme Strukturwandel darf die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht aufs Spiel setzen. Damit er gelingt, müssen wir die Leistungskraft unserer Ingenieurinnen und Ingenieure und unsere hervorragende Technologiebasis nutzen. Und wir müssen die Innovationsdynamik und Stärke des Zusammenspiels von industriellem Mittelstand und Großunternehmen sichern und weiter erhöhen.
Wenn jetzt die Parteien um Konzepte für die kommenden Jahre ringen, dann geht es wirtschaftspolitisch um den Dreiklang Innovationskraft, industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Exportstärke. Dieser Dreiklang ist Schlüssel für Arbeitsplätze und die Leistungskraft unseres Landes und dafür, dass uns der Umbau Richtung Klimaneutralität im Sinne der Ziele des Pariser Abkommens gelingen kann. Schaffen wir das, ist es zugleich Ansporn für andere, einen vergleichbaren Weg zu gehen – idealerweise unter Nutzung von Technologien der deutschen Industrie. Das nutzt dann dem Industriestandort Deutschland und hat einen Hebeleffekt auf die Dekarbonisierung, der weit über den direkten Anteil Deutschlands am globalen CO2-Aufkommen hinausgeht.
Mehr zum Thema: Der Klimaschutz ruiniert uns – wenn er falsch gemacht wird. Das anspruchsvollste Projekt der jüngeren Wirtschaftsgeschichte wird auch das teuerste, wenn die Politik zu viele Fehler begeht. Dabei muss Klimaschutz weder Jobs noch Wohlstand kosten.