Droht Europas größter Exportnation der Verkehrskollaps?
Risse im Beton, drei Monate Vollsperrung für Lastwagen mit mehr als 3,5 Tonnen Gesamtgewicht. 15.000 Lkws pro Tag mussten die A1-Autobahnbrücke bei Leverkusen weiträumig umfahren. Volkswirtschaftlicher Schaden: 60 bis 80 Millionen Euro, so eine Studie – durch Zeitverlust, höhere Betriebs- und Kraftstoffkosten, Unfälle und Lärm.
Auch auf der A7 in Schleswig-Holstein und der A45 in Hessen wurden Brücken von einem auf den anderen Tag gesperrt. Deutschlands Verkehrsinfrastruktur, bislang eine sichere Basis für den Standortwettbewerb mit den europäische Nachbarn, kommt ins Alter. Die Hälfte der bundesweit 39.000 Straßenbrücken wurde vor 1980 gebaut. Das Durchschnittsalter der Eisenbahnbrücken liegt bei 56 Jahren. Seit Jahren schon geizt der Staat mit Ausgaben für Straßen, Schienen und Wasserkanäle. Deutschland fährt auf Verschleiß.
Auf sieben Milliarden Euro beziffert eine Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Verkehrsministers Karl-Heinz Daehre (CDU) aus Sachsen-Anhalt den jährlichen Zusatzbedarf, um Autobahnen und kommunale Straßen sowie Schienen und Wasserkanäle auf Vordermann zu bringen und Lücken zu schließen. Doch woher soll das Geld kommen?
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) erneuert im Interview mit der WirtschaftsWoche die CSU-Forderung nach einer Pkw-Maut. „Ohne Nutzerfinanzierung geht es mittelfristig nicht“, sagt er. „Wir brauchen zusätzliches Geld.“ Derzeit investiert der Bund rund zehn Milliarden Euro pro Jahr in Ausbau, Neubau und Sanierung der Verkehrsinfrastruktur. Allein für die Bundesstraßen seien zusätzliche 2,5 Milliarden pro Jahr erforderlich, so Ramsauer, aber nur die Hälfte davon könne der Bund sich auch leisten.
Industriepolitik: Die Pläne der CDU/CSU
Straßenausbau wird besonders betont und erhält 25 Milliarden Euro bis 2017. Erhalt geht vor Neubau. Öffentlich-private Partnerschaften stärken. Luftverkehrsteuer könnte abgeschafft werden.
Schutz der Industrie vor hohen Strompreisen. Bau neuer und effizienter Kohle- und Gaskraftwerke als Reservekapazität. Auch Braunkohle kann Beitrag leisten. Fracking möglich, wenn Gefahren ausgeschlossen. Erdkabel in Wohnnähe, wenn Kosten und Nutzen in Einklang. Energiekonzerne bleiben wichtig.
Frühzeitige Einbindung der Bürger bei Stromtrassen vor Ort. Bürger sollen Anteile am Stromnetz erwerben und „Bürgerdividende“ erhalten.
Keine wesentlichen Änderungen geplant. Einführung von Vermögensteuer wird abgelehnt.
Anteil am BIP steigern, etwa über steuerliche Forschungsförderung. Wagniskapital für Startups. Nein zu Embryonenforschung.
Union stellt sich vor Konzerne und Großindustrie. Moralische Bedenken bremsen Forschungsfreiheit.
Dass die Infrastruktur mehr Geld braucht, darüber sind sich die politischen Parteien weitgehend einig. Doch das allein reicht nicht. Es geht auch darum, die Mittel effizient einzusetzen. Mühsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Erhalt vor Neubau geht. Noch immer werden Ortsumgehungen mit einer anfänglichen Investition von vielleicht nur einigen Millionen Euro auf den Weg gebracht, deren Weiterbau in den Folgejahren aber ein Vielfaches an Mitteln bindet.
Die Chance für einen radikalen Schwenk in der Investitionsstrategie stehen gut. Das Bundesverkehrsministerium entschlackt derzeit den Bundesverkehrswegeplan, der ab 2015 den alten Investitionsplan ersetzt. In ihm befinden sich sämtliche Verkehrsprojekte, die der Bund bis 2030 finanziert. Der Bund priorisiert die Projekte, die die Länder anmelden. Bayern und Sachsen-Anhalt etwa kippen alle Landesvorhaben hinein, Hamburg und Baden-Württemberg treffen eine Vorauswahl. Eine Wünsch-dir-was-Liste der Länder soll es künftig nicht mehr geben.
Kann Deutschland noch Großprojekte?
2014 geht es los: Bis zu zehn Maschinen pro Tag; der Teilbetrieb des neuen Hauptstadtflughafens soll Abläufe testen, damit sich Mitarbeiter so auch „mental“ auf ihren neuen Arbeitsplatz einstellen können, sagt Chef Hartmut Mehdorn. BER bleibt eine Lachnummer.
Mein Flughafen, mein Bahnhof, meine Oper – das Begehren der Politik nach Prestigeprojekten endet allzu oft in teuren Scherbenhaufen – den Kehraus übernimmt der Steuerzahler. Mehr als vier Milliarden Euro wird der Airport BER kosten, ein Plus von 50 Prozent. Auch beim Bahnhof Stuttgart 21, der Elbphilharmonie in Hamburg, dem City-Tunnel in Leipzig und der Nord-Süd-Stadtbahn in Köln explodieren die Kosten. Nur diese fünf Projekte liegen rund sieben Milliarden Euro über Plan.
Deutschland ist dabei, sein Image als sorgfältiger Bauherr zu verbuddeln. Die Bauindustrie „wird langfristig darunter leiden“, sagt Klaus Grewe. Der Deutsche arbeitet für die Bauberatung Jacobs in London, die acht Milliarden Euro umsetzt. Grewe verantwortete den Bau der Olympischen Sportstätten in London 2012. Die wurden fünf Monate früher fertig und rund eine Milliarde Euro billiger als geplant. Warum geht so etwas bei uns im Lande nicht?
Deutschlands einstürzende Neubauten haben eines gemein: „die fehlende Planung“, so Grewe. Beim Bau von Londons Sportstätten kalkulierte sein Team 14.000 Risiken. Wenn eine Wasserleitung unter 50 denkmalgeschützten Gebäuden verläuft, seien dies 50 Risiken. „Da entstehen schnell hohe Gesamtkosten für ein Projekt.“ In Deutschland würden Risiken „nicht in dieser Tiefe“ errechnet.
Industriepolitik: die Pläne der SPD
Mehr Geld für alle Verkehrsträger: Straßen, Schiene und Wasserwege. Nationales Verkehrswegeprogramm soll 80 Prozent der Neu- und Ausbaumittel koordinieren. Engpassbeseitigung ist Schwerpunkt.
Senkung der Stromsteuer und Einspeisevergütung für Erneuerbare. Ziel 2030: 75 Prozent Strom durch Erneuerbare. Dezentrale Energieversorgung. Neues Energieministerium soll Energiewende koordinieren. Stromübertragungsnetze werden in der Deutschen Netzgesellschaft zusammen geführt. Kein Fracking.
Über regionale „Bürger-Fonds” sollen sich Bürger am Ausbau der Strom- und IT-Netze beteiligen, Idealbild: „Bürgerwindpark“.
Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent. Erhebung der Vermögensteuer. Beibehaltung der Verschonungsregel bei Unternehmenserbschaften.
Ausgaben über drei Prozent des BIPs steigern, etwa über steuerliche Forschungsförderung und verbesserte Abschreibung.
Neue Investitionen sollen Energiewende stärken. Kann gelingen. Gefahr: Bürokratie steigt. Drohende Steuerlast.
So lassen sich politische Projekte wie S21 auch besser durchsetzen. Mit mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung wollen die Parteien weiteren Blamagen vorbeugen – die SPD will die Menschen an Großprojekten sogar finanziell beteiligen (siehe Kurztextgalerie). Aus Verzweiflung über den neu-deutschen Dilettantismus setzte Ramsauer eine Reformkommission Großprojekte ein, die bis 2014 Lösungen erarbeitet. Auch Grewe ist dabei. „In Deutschland wird künftig realistischer gebaut“, hofft er, nicht preiswerter, „aber den Steuerzahlern wird reiner Wein eingeschenkt“.
Das bedeutet auch Neuland für die Bürger. „Stellen Sie sich vor, die Stadt Hamburg will ein Gelände in Altona zu einem neuartigen Viertel umbauen“, so Grewe. Das Grundstück werde gekauft, Berater errechneten die Baukosten. Monatelang geschehe auf dem Grundstück nichts. „Im Extremfall fallen die prognostizierten Baukosten dann so hoch aus, dass die Stadt nicht baut.“ Die Beratung bekäme trotzdem „zig Millionen“. „Das erfordert einen Kulturwandel“, sagt Grewe.
Muss die Energiewende gewendet werden?
Drei Jahre lang kämpfte Mathias Elshoff, Bäckereibesitzer im Münsterland, gegen Testbohrungen nach Schiefergas. Seine Interessengemeinschaft gegen Gasbohren (IGGG) setzte durch, dass Fracking, das chemische Herauslösen von Gas aus unterirdischen Gesteinsblasen, in Nordrhein-Westfalen unmöglich bleibt. Risiken wie Chancen bleiben unerforscht. Elshoff: „Damit schafft man Fakten.“
Deutschland bleibt Fracking-freie Zone. Zwar erlauben Bundesgesetze weiterhin Bohrungen, eine entsprechende Genehmigung vorausgesetzt. Doch Energiekonzerne wie ExxonMobil, die in der deutschen Tiefebene nach Gas bohren wollten, wollen danach gar nicht mehr fragen. So schwindet die Hoffnung vieler, die Kostenexplosion der Energiewende könne doch noch gebändigt werden.
Industriepolitik: Die Pläne der Grünen
Schwerpunkt Schiene: eine Milliarde Euro pro Jahr mehr. Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn. Straßenbau: Geld fließt nur in Erhalt und ein Autobahn-Kernnetz. Ausbaustopps bei Flughäfen möglich.
Ziel 2030: Strom zu 100 Prozent aus Erneuerbaren. Energieversorgung verstärkt auf lokaler Ebene, Konzerne werden zurückgedrängt. Deutsche Netzgesellschaft koordiniert Stromversorgung. Kohleausstieg bis 2030. Nein zu Fracking und neuem Braunkohletagebau. Industrierabatte werden eingeschränkt.
Grundgesetzänderung für mehr Volksabstimmungen, auch direkte Abstimmung über Großprojekte. Anspruch auf Lärmschutz.
Einführung einer Vermögensabgabe auch auf Betriebsvermögen: Abgabe auf maximal 35 Prozent des Gewinns. Abbau der Subventionen bei Dienstwagen.
Förderung grüner Technologien. Top-Runner-Ansatz: Die besten Effizienzklassen eines Produktes werden zum Standard der Branche.
Vision vom grünen Industriestandort. Wer da nicht reinpasst, hat schlechte Karten, etwa durch höhere Steuern.
Der Umstieg auf erneuerbare Energien, nach der Kernschmelze im japanischen Fukushima 2011 mit Hochmut im Hauruckverfahren durchgesetzt, droht zum GAU für den Produktionsstandort zu verkommen. Der gewaltsame Umbau der Stromversorgung und die daraus entstehenden Kosten benachteiligen Handwerker, Mittelständler und manchen Industriebetrieb gegenüber der ausländischen Konkurrenz, die keine Umlagen für einen Mammutumbau zahlen müssen. Dazu kommt noch:
- Blackouts sind möglich. Die Bundesnetzagentur warnt vor Versorgungsengpässen im Süden nach 2020. Bis dahin gehen Kraftwerke vom Netz, die heutige Schwankungen bei Sonne und Wind ausgleichen. Es gebe „großen Anlass zur Sorge“.
- Der Ausbau stockt. Neue Überlandleitungen und Verteilnetze kommen nur schleppend voran – auch weil die Abwehrfront gegen Leitungen vor Ort quer durch alle Parteien geht. Der Anschluss der Offshore-Windkraft stockt ebenfalls.
- Der Strompreis steigt. Und das umso stärker, je weniger Verbraucher und Mittelständler die Umlagen für Erneuerbare und den Netzausbau schultern sollen, weil die Ausnahmen für die Industrie zunehmen. Laut Experten könnten die Preise 2013 bei voller Abwälzung aller Preistreiber für Privatkunden um 13 Prozent steigen.
- Die Nachteile überwiegen. Die Deutschen haben im Wettbewerb gegenüber den USA das Nachsehen. Dort mindert Fracking die Abhängigkeit von Gas aus dem Ausland – der Preis lag kürzlich bei einem Viertel des Preises von 2008.
Die Diskussion über Für und Wider der Energiewende ist immer noch geprägt von ideologischem Gerassel. Oft werden nur Scheingefechte geführt, um den Gegner bloßzustellen, wie die Debatte um die Gefahren des Frackings zeigt. Denn eigentlich ist Fracking „energiepolitisch nicht notwendig und kann keinen maßgeblichen Beitrag zur Energiewende leisten“, urteilt der Sachverständigenrat für Umweltfragen im Auftrag der Bundesregierung.
Schädigt Moral das Innovationsklima?
13 Jahre lang forschte BASF bei Mannheim an der genveränderten Kartoffel. Kaum war die Zulassung für Amflora 2010 erteilt, schloss der Konzern wenig später das Zentrum für Biotechnologie und zog in die USA, weil die Aussichten auf Akzeptanz dort besser sind. Für Ilse Aigner (CSU) ist die Kapitulation von BASF ein Erfolg. „Es gibt in Deutschland keinen einzigen Hektar mit gentechnisch veränderten Pflanzen mehr“, freut sich die Bundeslandwirtschaftsministerin heute. „Es ist kein Anbau genehmigt, einfach weil ich es verboten habe. Da hätte mich der Koalitionspartner fast gelyncht.“
Die grüne Gentechnik sorgt weltweit für Hoffnungen, in Deutschland produzierte sie vor allem eines: Aigners Zorn. Dabei kam die unabhängige Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2011 in einer Studie zum eindeutigen Schluss: „Mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung zeigen: Die von Kritikern postulierten negativen Folgen für Umwelt, Tier und Mensch sind in keinem Falle eingetreten.“ Zudem warnte die DFG: Die Blockade einer verantwortungsbewussten Erforschung grüner Gentechnik sei „ungerechtfertigt“ und werde „unsere Zukunftschancen verringern.“ Die Sätze verhallen ungehört.
Auch bei Nanotechnologie, Stammzellenforschung und Kerntechnik gibt es unverrückbare Gegensätze und Vorbehalte in Politik und Gesellschaft. „Forschungen wie die verbrauchende Embryonenforschung lehnen wir aus ethischen Gründen ab“, schreibt die Union in ihr Wahlprogramm.
Noch kann sich Deutschland solche moralischen Tabuzonen erlauben, weil allein die Wirtschaft, von Mittelständlern bis zum Dax-Konzern, in diesem Jahr 54 Milliarden Euro in die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen steckte, schätzt der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft – neun Milliarden mehr als 2009. Auch Universitäten und Forschungsinstitute sind finanziell gut ausgestattet, weil der Bund Milliarden ins System pumpte. Die Grundlagenforschung der Max-Planck-Institute hat ebenso Weltruf wie die praxisnahe Arbeit der Helmholtz-Gemeinschaft oder Fraunhofer-Gesellschaft.
Industriepolitik: Die Pläne der FDP
Schwerpunkt Straße: bekommt das meiste Geld, Finanzierung auch mit privaten Partnern. Trennung von Netz und Schiene bei der Bahn. Vertiefung von Unterelbe und Ems. Luftverkehrsteuer abschaffen.
Stromsteuer senken. Reform des EEG: mehr Markt; Auslaufen der festen Einspeisevergütung; statt EEG-Marktprämie bald Marktzuschlag auf Börsenpreis. Auslaufen der EEG-Förderung, wenn Ausbauziele erreicht. Auch Bereitstellung von Leistung soll honoriert werden. Industrierabatte unverzichtbar.
Debattenbeitrag statt Bürgerentscheid: Bürger sollen sich an Diskussionen beteiligen, etwa bei der Standortsuche nach Endlager für Atommüll.
Keine Erhöhung der Unternehmenssteuern. Erbschaftsteuer vereinfachen. Personengesellschaften sollen wie GmbH’s besteuert werden können.
Steuerliche Förderung. Kooperationen von Universitäten und Industrie intensivieren. Mehr Wagniskapital für innovative Unternehmen.
Die Autofahrerpartei: setzt bei Energiewende auf Markt statt Staat. Wirtschaft wichtiger als Naturschutz.
Doch bei der Umsetzung der Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte hapert es noch immer in Deutschland. Die Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung kritisiert, dass die Wagniskapitalfinanzierung junger Unternehmen zu wünschen übrig lasse. Und die von Schwarz-Gelb versprochene steuerliche Forschungsförderung müsse endlich auf den Weg gebracht werden.
Kritik kommt auch vom Chef des Pharmariesen Bayer. Deutschland sei zwar wirtschaftlich erfolgreich, sagt der Holländer Marijn Dekkers. „Aber wie gut könnte man erst leben, wenn man etwas offener wäre gegenüber neuen Technologien?“ Die Deutschen seien „da sehr, sehr konservativ. Man will Fortschritt, ohne etwas zu wagen, ohne etwas aufzugeben.“ Man müsse zwar immer alle Risiken genau analysieren. „Aber man darf nicht so lange nur über Risiken diskutieren, bis die Chancen vertan sind oder von anderen genutzt werden.“
Verschenkt Deutschland seine Chancen in der IT?
Eigentlich war die elektronische Gesundheitskarte beschlossene Sache. Doch seit elf Jahren torpedieren Ärzte erfolgreich das Versichertenkärtchen, das neben Personalien auch Diagnosen, Befunde, Röntgenbilder und Verschreibungen speichern würde. Diagnosen könnten so erleichtert, Doppeluntersuchungen begrenzt werden. Doch die Mediziner fürchten den Wettbewerb.
Träge und mutlos beugt sich die Politik dem Lobbydruck. In Dänemark, Österreich und Frankreich funktioniert die elektronische Gesundheitskarte hervorragend – und geräuschlos. „Deutschland hinkt gegenüber diesen Vorreiterländern um zehn Jahre hinterher“, sagt Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des IT-Branchenverbandes Bitkom. Auch IT-Projekte wie der elektronische Entgeltnachweis (Elena), der digitale Behördenfunk und E-Government kommen nicht voran. „Deutschland verschenkt ein enormes Potenzial.“
Allein die Wirtschaft kostet der behäbige Ausbau digitaler Anwendungen einen hohen einstelligen Milliardenbetrag pro Jahr, schätzen Experten, weil Behördengänge noch immer nicht in ausreichender Anzahl per Mausklick abgewickelt werden können. Die De-Mail, Deutschlands Antwort auf das Briefgeheimnis im Internet, ist zwar Gesetz. Doch die kommunalen Verwaltungen beginnen jetzt erst mit der Umsetzung.
Industriepolitik: Die Pläne der Linken
Deutlich mehr Geld für öffentliche Infrastruktur – Schuldenbremse kommt dafür weg. Verstaatlichung der Bahn. Verbot von Lang-Lkws. Ausstieg aus Stuttgart 21. Striktes Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr.
Ausstieg aus der Atomkraft beschleunigen und Kohlestrom bis 2040 beenden. Komplette Umstellung auf erneuerbare Energien bis 2050. Rekommunalisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge wie Wasser und Energie. Strom- und Wärmenetze werden in die öffentliche Hand überführt. Industrierabatte einschränken.
Bürgerräte auf Bundes-, regionaler und kommunaler Ebene entscheiden mit Parlamenten über „Ob“ und „Wie“ von Großprojekten.
Fünfprozentige Steuer auf Privat- und Betriebsvermögen ab einer Million Euro. Körperschaftsteuer auf 25 Prozent erhöhen. Gewerbesteuer ausweiten.
Masse statt Klasse. Statt Exzellenzinitiative soll Breite der Hochschulen gefördert werden. Drittmittelforschung mit Industrie einschränken.
Der Staat soll´s richten. Infrastrukturausbau auf Pump belastet künftige Generationen. Steuern würgen Wirtschaft ab.
Immerhin: Bei der technischen Infrastruktur ist Deutschland auf gutem Weg. Nahezu alle bundesweiten Haushalte verfügen über einen Breitbandzugang mit schnellem Internet wie DSL, UMTS, LTE oder Kabel. Mit dem neuen Mobilfunkstandard LTE konnten Ende 2012 „so gut wie alle weißen Flecken in der Breitbandversorgung ländlicher Regionen geschlossen werden“, sagt Rohleder. Konzerne wie Deutsche Telekom, Vodafone und Telefónica haben sich für die nächsten Jahre Frequenzen gesichert und stecken rund zehn Milliarden Euro in den Ausbau – auf politischen Druck zunächst auf dem Land.
Allerdings hakt der Ausbau des noch schnelleren Internet-Zugangs. „Deutschland, die führende Wirtschaftsmacht in Europa, hinkt bei der Zukunftstechnologie Glasfaser im europaweiten Vergleich noch erheblich hinterher“, heißt es in einer Studie des Netzausrüster-Branchenverbands FTTH Council Europe. Weil nicht einmal ein Prozent der Haushalte via Glasfaser verbunden ist, führt der Verband Deutschland nicht einmal im europaweiten Ranking auf. 80 Milliarden Euro wären nötig für eine flächendeckende Versorgung. Doch der Preiskampf um Internet-Kunden macht die Finanzierung für die Unternehmen wenig lukrativ – an politischen Initiativen mangelt es.
Würgen die Alten den Fortschritt ab?
Jeden Montag im Frankfurter Flughafen: Demonstranten begehren auf gegen Nachtlärm und Ausbaupläne. Sie „sind in der Mehrheit älter, gut gebildet, Rentner und Pensionäre, zeitreich und politisch eher Mitte-links orientiert“, heißt es in einer Studie der Stiftung Marktwirtschaft. Jeder Zweite ist Rentner. „Selbst für die alternde Gesellschaft ist diese Protestgruppe überdurchschnittlich alt“, sagt Stiftungsvorsitzender Michael Eilfort.
Der Frankfurter Volkszorn gibt einen Vorgeschmack auf künftige Proteste, deren „Zeit gerade erst begonnen haben“ dürfte, schreibt der Politologe Franz Walter in seinem Buch „Die neue Macht der Bürger“. Er leitetet das Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. „Ein bisschen salopp orakelt: Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich Hunderttausende hoch motivierter und rüstiger Rentner mit dem gesammelten Rüstzeug der in den Jugendjahren reichlich gesammelten Demonstrationserfahrungen in den öffentlich vorgetragenen Widerspruch begeben.“
Auf der Strecke bleiben die Jungen, denen die Politik Fortschritt missgönnt. Für Wählerstimmen redet sie Saturierten das Wort. Bei der Bundestagswahl im September ist die Mehrheit der Wähler jünger als 55 Jahre. In vier Jahren kippt das Verhältnis. „Ab 55 Jahren nimmt die Bereitschaft für Veränderungen rapide ab“, sagt Eilfort. „Sollte sich die Einstellung der Älteren gegenüber Veränderungen nicht ändern, sehe ich Gefahren für das Wachstum.“
Eine Rentenreform wird in 20 Jahren „unmöglich“ sein, so Eilfort. Zudem werde es „immer brisanter, Infrastrukturvorhaben umzusetzen“. Protestbewegungen manifestieren sich zudem unter jenen, „die nichts zu verlieren haben“. Sie radikalisieren sich – ohne Rücksicht auf andere.
Die Politik ist für die bürgerliche Misstrauenskultur selbst verantwortlich. Gescheiterte Bauprojekte, explodierende Kosten und Intransparenz frustrieren die Bürger. „Eine Lösung könne lauten, rechtzeitig und ehrlich zu informieren“, sagt Eilfort. Wie es die Schweizer etwa beim Bau des 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnels durch die Alpen machten. Sie stimmten 1992 nicht nur grundsätzlich über den Bau ab, sondern auch ein zweites Mal, als die Kosten explodierten.
Belasten mehr Steuern den Mittelstand?
Lutz Goebel hat die Kosten einer wieder eingeführten Vermögensteuer für sein Unternehmen berechnet. 420.000 Euro würde sie den Betrieb jedes Jahr kosten. Folge: 20 Prozent des Jahresüberschusses würden nicht mehr reinvestiert, sondern an den Fiskus gehen (WirtschaftsWoche 5/2013).
Seither stehen Deutschlands Unternehmer wegen der rot-grünen Steuerpläne auf der Zinne. Nicht nur die in den Neunzigerjahren eingemottete Vermögensteuer will die Opposition wieder einführen, auch an der Einkommensteuerschraube möchte sie drehen und den Spitzensatz von derzeit 42 auf 49 Prozent – plus Soli – erhöhen. Allein die Grünen-Pläne würden das Steueraufkommen um 40 Milliarden Euro in die Höhe treiben, errechnete der Wirtschaftsverband Die Familienunternehmer.
Dabei brechen die Steuereinnahmen bereits einen Rekord nach dem anderen. Bis 2017 dürften die Steuereinnahmen um rund 100 Milliarden auf mehr als 700 Milliarden Euro steigen – allein nach dem jetzigen Steuerrecht, weil die Wirtschaft brummt und Unternehmen immer mehr Mitarbeiter einstellen. Mehr als sechs Monate lang arbeiten die Deutschen nur für den Fiskus und die Sozialkassen; auf einem abgeschlagenen Platz 23 rangieren sie damit in der bisherigen EU-27.
Das aber ist Sozialdemokraten und Grünen offenkundig nicht genug. Bildung und Infrastruktur bräuchten noch mehr Staatseinnahmen, argumentieren sie. Doch anstatt mit den vorhandenen, üppigen Steuereinnahmen klarzukommen, wollen sie Bezieher höherer Einkommen noch stärker zur Ader lassen. Wohin aber staatliche Maßlosigkeit führt, erlebte Deutschland bis vor wenigen Jahren. Aus Stagnation, Massenarbeitslosigkeit und hohen Staatsdefiziten haben erst die Sozial- und Steuerreformen zu Beginn der Nullerjahre geführt. Wollen wir wieder zurück zur alten, lähmenden Staatsvöllerei?