Krisenjahr 2014 Was die Finanzkrise und die des Islam verbindet

Seite 5/5

Krisen des Denkens

Der Westen achtet die Würde des Menschen. Aber es gibt eben noch eine andere, nicht weniger wertvolle Würde, die man auch in der Freien Welt mit Füßen tritt. Eine Gesellschaft, die dauerhaft über die Grenzen der Belastbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen hinaus wirtschaftet, verletzt die Würde der Erde. Und die ist mit der Würde des Menschen unauflösbar verbunden. Denn der Mensch ist – banal, aber oft vergessen – nicht unabhängig von seinen natürlichen Lebensgrundlagen auf einer begrenzten Erde.

Die Rede des deutschen Papstes Benedikt vor dem Bundestag war deswegen ein Jahrhundertereignis. Ihr zentraler Satz lautet: „Die Erde trägt selbst ihre Würde in sich, und wir müssen ihren Weisungen folgen.“ Das ist keine katholische und nicht mal eine christliche Botschaft. Das ist eine universelle Botschaft der Vernunft.

Die Menschenwürde und die Würde der Erde zu wahren, diese zivilisatorische Verantwortung kann uns keiner nehmen, im Westen nicht und nicht in der islamischen Welt. Da hilft kein weiteres Wachstum auf Pump und erst Recht kein fanatisches Festhalten an den Glaubensgrundsätzen einer Wüstenreligion des 7. Jahrhunderts.

Alles Wissen ist im Koran offenbart. Mit dieser Geisteshaltung blockiert sich die Umma seit jeher selbst. Der Islamologe Bassam Tibi spricht von der „halben Moderne“ und der „Zwickmühle des Islams“, weil dieser zwar moderne Erzeugnisse akzeptiert, aber nicht das wissenschaftlich-freie Denken, das dahinter steht. Das Pendant dieser kollektiven Selbstverblödung im Westen lautet: Alles Wissen hat der Wirtschaft zu nutzen.

Der Schlüssel zur Überwindung des Terrors und zur Befriedung der islamischen Welt ist sicher nicht mit Cruise Missiles und Kampfdrohnen zu finden, weil er in den Köpfen der Muslime steckt. Ebenso wenig kann Mario Draghi die Krise des westlichen Finanzsystems mit seiner „Dicken Bertha“ ausradieren. Beide Krisen sind im Kern Krisen des Denkens.

Darum hilft nur Bildung. Was auch sonst. Aber eben nicht die Bildung, die sich die OECD und die Bertelsmann-Stiftung wünscht, und die allein dem Zweck dient, neue Produkte zu erfinden und den Konsum anzutreiben. Und erst Recht nicht die dumpfe Indoktrinierung, die islamische Stiftungen in ihren Koranschulen betreiben. Sondern Bildung als Weg zu Vernunft und Selbsterkenntnis.

Die Geschichte der Bildung, also des Nachdenkens und Erkennens statt des Glaubens, begann vor etwa 2500 Jahren auf einem kleinen Archipel an der Grenze des heutigen Europa zum Orient. Bei den alten Griechen, die die aufgeschlossenen Muslime des Mittelalters al-qudama, die Vorfahren, nannten. Viele ihrer Gedanken, ihrer Mythen und Dichtungen sind heute aktueller als je zuvor.

Ihre Tragödien vor allem. Die handeln meist von der Hybris der Menschen, die die irdischen Grenzen überschreiten zu können glauben – und am Ende von den Göttern bestraft werden.

Wenn wichtige Entscheidungen anstanden, gingen die Griechen stets zum Orakel von Delphi. Über dessen Portal stand: Medèn ágan - Nichts im Übermaß.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%