Metalltarifrunde „Warnstreiks sind trotz Lockdown möglich“

Protestaktionen trotz Lockdown? Die IG Metall hält das für möglich. Wenn die Friedenspflicht endet, Anfang März, will die Gewerkschaft womöglich zu ersten Warnstreiks aufrufen. Quelle: imago images

Kann man in Coronazeiten einen Arbeitskampf führen? Ja, sagt der nordrhein-westfälische IG-Metall-Chef Knut Giesler – und kündigt für die laufende Tarifrunde „kreative“ Protestaktionen an.

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Knut Giesler, 55, ist seit 2012 Chef der IG Metall Nordrhein-Westfalen, des mitgliederstärksten Bezirks der größten deutschen Gewerkschaft. Zuvor war der gelernte Energieanlagenelektroniker unter anderem Betriebsrat bei FAG Kugelfischer.

WirtschaftsWoche: Herr Giesler, an diesem Montag gehen die Metall-Tarifverhandlungen in die zweite Runde. Wie darf man sich Tarifgespräche in Lockdown- und Coronazeiten vorstellen?
Knut Giesler: Wir haben im Düsseldorfer Hilton-Hotel den größten verfügbaren Raum angemietet und sitzen dort mit insgesamt zehn Leuten in großem Abstand voneinander. Über Zoom sind die Verhandlungskommissionen zugeschaltet, die Gespräche werden alle 45 Minuten unterbrochen. Jeder Teilnehmer muss unmittelbar vorher einen Corona-Schnelltest machen und danach im Auto warten, bis das Ergebnis vorliegt. Damit ist größtmögliche Sicherheit gewährleistet. Einen rein virtuellen Tarifabschluss kann ich mir angesichts der komplexen Materie ehrlich gesagt nicht vorstellen.

Die IG Metall fordert vier Prozent mehr Lohn – wobei es möglich sein soll, mit dem Geld einen Teillohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzungen zu finanzieren. Wollen Sie durch die Hintertür die 32-Stunden-Woche einführen?
Sinkende Arbeitszeiten dürfen kein Tabu sein, wir brauchen sie als zusätzliches Werkzeug im Tarifbaukasten. Sie helfen überall dort, wo Kapazitäten abgesenkt werden sollen. Und hier geht es nicht allein um die Folgen der Coronakrise, sondern auch um die dramatische Transformation unserer Industrie. Digitalisierung, Dekarbonisierung und der Wandel in der Verkehrsmobilität sind ja als Megathemen nicht urplötzlich verschwunden, sondern durch die Pandemie allenfalls etwas in den Hintergrund gerückt. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein ökonomisches Bedrohungsszenario etwa für die Kraftwerksindustrie, energieintensive Branchen und die vielen Automobilzulieferer, die sich auf E-Mobilität umstellen müssen.

Wer soll über das konkrete Procedere von Arbeitszeitverkürzungen entscheiden – die Tarifpartner oder die Betriebsparteien?
Darüber müssen wir in den Verhandlungen reden. Es gibt ja bereits einen Tarifvertrag, der Arbeitszeitverkürzungen regelt, nur eben ohne den von uns geforderten teilweisen Lohnausgleich. Wir sind bereit, die Arbeitszeiten betriebs- und sogar abteilungsspezifisch unterschiedlich zu regeln. Es kann sein, dass kürzere Arbeitszeiten für eine Abteilung passen, für die Abteilung in der Etage darunter aber nicht. Da müssen wir flexibel sein.

Knut Giesler Quelle: imago images

Nun gibt es aber schon eine Art von teilweise bezahlter Arbeitszeitverkürzung, nämlich die Kurzarbeit. Soll die Vier-Tage-Woche in Metallbetrieben an die Stelle der Kurzarbeit treten oder erst greifen, wenn Kurzarbeitsfristen abgelaufen sind?
Wo ist das Problem? Die Beschäftigten und Betriebe können doch schauen, welches Instrument für sie besser passt. Viele Transformationsprozesse in den Unternehmen werden zudem weit länger brauchen als die 24 Monate, für die es Kurzarbeitergeld gibt. Insofern kann die Tarifpolitik hier eine Beschäftigungsbrücke bauen und Entlassungen verhindern. Ich finde, wir haben den Arbeitgebern noch nie ein so tolles Angebot gemacht.

Das sieht Ihr Tarifpartner dezidiert anders. Der Chef der nordrhein-westfälischen Metallarbeitgeber hat bereits vor einem „Belastungstest für die gesamte Sozialpartnerschaft“ gewarnt. Glauben Sie wirklich, dass es in diesen Krisenzeiten etwas zu verteilen gibt?
Na, ganz so schlecht sieht es in der Industrie derzeit nicht aus. Die Konjunktur hat sich stabilisiert. Die Automobilindustrie bestellt zurzeit wieder wie Hulle, die Kurzarbeit ist zurückgegangen. Außerdem brauchen wir für eine Stabilisierung der Binnenkonjunktur eine Absicherung der Entgelte. Deshalb sage ich: Ja, es gibt auch 2021 etwas zu verteilen. Wenn auch natürlich nicht so viel wie in Boomjahren.

Aber wie wollen Sie in den Verhandlungen Druck aufbauen? Sie können ja in Coronazeiten schlecht mit 3000 Leuten vor die Werkstore ziehen.
Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir werden auf andere Weise Druck machen müssen als in früheren Tarifrunden, dabei aber sehr kreativ sein. Unsere interne Kampagnenplanung läuft.

Wir sind gespannt. Was haben Sie vor?
Wie wäre es mit einem Autokorso? Wir könnten auch wie im Sommer Kundgebungen im Autokino machen, da hatten wir in drei Veranstaltungen über 3000 Teilnehmer. Wir waren im September in Düsseldorf mit 3000 Leuten auf den Rheinwiesen, abgestimmt mit Ordnungs- und Gesundheitsamt. Das war sehr aufwändig für uns, aber wir haben das diszipliniert hinbekommen.



Die Friedenspflicht endet Anfang März. Kann es dann trotz Lockdown zu Warnstreiks kommen?
Ja, natürlich. Wir sind seit Dezember in den Planungen mit unseren lokalen Geschäftsstellen. Wir fragen dort detailliert ab, wie die wirtschaftliche Situation in den Betrieben ist und aktualisieren das in relativ kurzen Abständen. Das heißt, wir werden Ende Februar genau wissen, wo je nach Auslastung Warnstreiks als Nadelstich sinnvoll sind – und wo nicht.

Wie sieht ein Warnstreik aus, wenn viele Beschäftigte im Homeoffice sitzen?
Ganz einfach: Alle machen früher Schluss und schalten Rechner und Handy aus.

„Wir bereiten uns auf alle Szenarien vor“

Könnte es auch diesmal wieder 24-Stunden-Streiks geben, die ohne Urabstimmung möglich sind?
Das will ich nicht ausschließen. Wir bereiten uns auf alle Szenarien vor.

Glauben Sie wirklich, dass sich um ihren Job bangende Arbeitnehmer für einen Arbeitskampf mobilisieren lassen?
Ja. An unserer Basis gibt es auch Stimmen, die sagen, dass die Forderung von vier Prozent eher zu niedrig ausgefallen ist. Die letzte prozentuale Entgelterhöhung gab es 2018. Das merken auch bei niedriger Inflationsrate die Kolleginnen und Kollegen im Portemonnaie.

Können Sie abschätzen, wie stark die Mitgliederzahlen und Einnahmen der IG Metall wegen Rezession und Corona 2020 gesunken sind?
Die Zahlen für die gesamte IG Metall werden am 28. Januar bekanntgegeben. Nur so viel: Wir in NRW hatten 2020 mit Schlimmerem gerechnet. Was Mitgliederzahlen und Einnahmen angeht, sind wir bisher mit einem blauen Auge davongekommen. Zudem ist es uns im vergangenen Jahr gelungen, bei einer Reihe von Betrieben eine Tarifbindung durchzusetzen, etwa bei Hydro Präzisionsrohre und Huf.

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Was unternehmen Sie denn aktuell, um Mitglieder zu halten beziehungsweise neue Mitglieder zu akquirieren?
Bei der IG Metall in NRW sind knapp 30 Leute allein mit der „Erschließungsarbeit“ befasst. Deren Arbeit ist in Coronazeiten natürlich schwieriger geworden, man kann ja nicht mehr in die Kneipe einladen, um sich vorzustellen oder über eine Betriebsratsgründung zu sprechen. Das bedeutet mehr Aufwand, mehr Termine mit einzelnen Leuten. Wir haben unser früher etwas brach liegendes Social-Media-Angebot deutlich ausgebaut und modernisiert.

Reicht das? Die Wirtschaft steckt in einer grundlegenden Transformation – wie steht es um die Transformation der IG Metall?
Wir sind auf gutem Wege, auch wenn mir das Veränderungstempo der IG Metall bisweilen noch zu langsam ist. Die Digitalisierung birgt für die Gewerkschaften Risiken, die wir ernst nehmen müssen. Sie schafft einen neuen Typus des Arbeitnehmers – und erfordert damit in Zukunft zwangsläufig ergänzend einen neuen Typus des Gewerkschaftsfunktionärs. Wir müssen als Arbeitnehmervertreter neue Qualifikationen erwerben und die Gewerkschaftsarbeit neu definieren. So reicht es schon lange nicht, immer „Nein“ zu sagen, wir müssen Alternativen aufzeigen. Das tun wir. Mit Verweigerung gewinnt man keine neuen Mitglieder. Man braucht Ideen und Lösungen. Da haben wir in den vergangenen Jahren viel dazugelernt.

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Der Trend zum Homeoffice dürfte auch nach Corona anhalten. Macht das die Arbeit für die IG Metall nicht schwieriger - weil die direkte persönliche Ansprache im Betrieb wegfällt?
Ja. Der Trend zum Homeoffice ist vorhanden, ist richtig und unumkehrbar, aber kann für Gewerkschaften ein organisationspolitisches Problem sein. Der Arbeitnehmer von morgen ist nicht mehr unbedingt per se der Gemeinschaftsmensch, der die Solidarität im Blut hat. Die historisch gewachsenen kollektiven Arbeitszusammenhänge lösen sich teilweise auf. Aber auch hier können wir gegensteuern. Ich habe 2009 meinen ersten Arbeitskampf mit einer Belegschaft organisiert, die zu über 50 Prozent im Homoffice arbeitete. Es gibt um die Herstellung der Tarifbindung in einem Wuppertaler Betrieb mit 150 Mitarbeitern. Wir haben die Leute zu einer Rheinschifffahrt eingeladen, das Boot zum Streiklokal erklärt, einen Beamer aufgestellt und erklärt, was wir vorhaben. Wir hatten in dem Betrieb anfangs nur ein einziges Mitglied. Am Ende waren es über 100.

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