Ulrich Weigeldt ist Chef des Deutschen Hausärzteverbands mit rund 30.000 Mitgliedern. Weigeldt ist als niedergelassener Hausarzt in Bremen tätig.
WirtschaftsWoche: Herr Weigeldt, wie sehr bestimmt Corona aktuell Ihren Praxisalltag?
Ulrich Weigeldt: Ich bin ja nur noch vertretungsweise in der Praxis, aber dort wie auch in anderen Praxen zeigt sich, dass wir kaum noch schwere Verläufe haben. Infektionen sehen wir nach wie vor viele in den Praxen.
Durch die neue Subvariante BA.5 steigen die Zahlen aktuell wieder, am Freitag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) rund 78.000 neue Fälle, 104 Menschen sind aufgrund einer Infektion gestorben. Stehen wir wieder vor einer neuen Welle?
Das ist schwierig abzuschätzen. Die neue Variante ist erstmal nicht überraschend, denn Mutationen sind die Überlebensstrategie von Viren. Dazu haben wir heute eine andere Situation als im vergangenen Sommer oder dem davor, weil viele Menschen zumindest zweimal geimpft sind oder eine oder zwei Infektionen durchgemacht haben und damit die Grundimmunität höher ist. Die Krankenhäuser wissen ebenfalls besser, wie Menschen mit schweren Verläufen zu behandeln sind und können deshalb besser mit schweren Fällen umgehen.
Corona-Variante BA.5
Die zunehmenden Corona-Infektionszahlen haben laut Experten mehrere Gründe:
Zum einen ist da der Omikron-Subtyp BA.5, der in Deutschland stetig zulegt. „Die Untervariante BA.5 ist noch ansteckungsfähiger als alle Varianten zuvor, kann sich also auch unter den für das Virus widrigen Bedingungen im Sommer verbreiten“, erklärt Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Zudem könne BA.5 nach derzeitigem Kenntnisstand dem Immunsystem entwischen, selbst wenn es schon Kontakt zu Omikron-Varianten hatte, mahnt er. Auch vollständig Geimpfte seien nicht vor einer Infektion gefeit.
Auf der anderen Seite steht ein verändertes Verhalten der Menschen. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen verweist vor dem Hintergrund gefallener Corona-Beschränkungen auf höhere Mobilität und mehr Kontakte – und das bei deutlich geringerem Schutzverhalten wie Maskentragen. Auch die nun bei vielen länger zurückliegende Impfung spiele eine Rolle: „Die Immunität hat im Schnitt abgenommen“, so Zeeb.
Auch wenn die Zahlen Wachsamkeit erfordern, einen Grund zur Panik sehen die Fachleute nicht. Intensivmediziner Stefan Kluge vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf spricht momentan von einem „moderaten“ Anstieg der Infektionszahlen. Dennoch gelte es, besonders vulnerable Menschen weiterhin konsequent zu schützen.
Zeeb sagt, es werde zwar absehbar mehr Infektionen geben, da aber BA.5 nach aktuellem Kenntnisstand klinisch ähnlich verlaufe wie vorherige Omikron-Varianten, dürfte es meist bei milden Verläufen bleiben. In der Summe könne es wieder etwas mehr Hospitalisierungen und auch Todesfälle geben, wenn die Infektionszahlen deutlich ansteigen, denkt er – eine Überlastung des Gesundheitswesens steht aus seiner Sicht aber nicht bevor.
Auch Kluge befindet mit Blick auf Normal- und Intensivstationen, wegen der wohl eher milden Verläufe durch Omikron-Sublinien sei eine deutliche Belastung des Gesundheitssystems durch sie im Sommer eher unwahrscheinlich. Dennoch bedeute eine hohe Anzahl von positiven Patientinnen und Patienten auch für Normalstationen eine deutliche Mehrbelastung – insbesondere für die Pflegenden. Watzl verweist auch auf mögliche Ausfälle bei Firmen durch viele leichte Infektionen.
Mit Blick auf das individuelle Verhalten appellieren die Experten jetzt wieder an die Selbstverantwortung. In den kommenden Wochen erwartet Zeeb ein Auf und Ab der Infektionszahlen, ab Herbst und Winter aber dann auch wieder einen Anstieg der Infektionen. So müsse klar sein, „dass Corona unter uns ist, es gibt da keine Sicherheit“, betont Zeeb. Da umfassende Regulierungen weitgehend wegfielen, müsse nun jede und jeder selbst in Situationen mit vielen Menschen, insbesondere in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Schutz mit Masken denken und auch den Impfschutz aktuell halten. Ulrichs befindet: „Ein bisschen mehr Vorsicht wäre hilfreich.“
Rund 76 Prozent der Menschen in Deutschland sind zweimal geimpft, aber nur knapp 60 Prozent wurden geboostert, rund 23 Prozent haben sich laut RKI bis heute nicht impfen lassen. Reicht das, um gut über den Sommer und in den Herbst zu kommen?
Das Problem ist, dass wir zwar die Impfquote nach Alter ungefähr kennen, aber nicht viel mehr. Wir wissen zum Beispiel nicht wirklich, wie viele von ihnen inzwischen eine Infektion durchgemacht haben, denn für so etwas haben wir noch immer keine Datengrundlage. Damit sind wir mehr als zwei Jahre nach Pandemiebeginn noch immer im Blindflug unterwegs, das ist fatal, wenn man aus den bisherigen Erkenntnissen lernen und eine vorausschauende Strategie entwickeln will.
Was hätte besser gemacht werden können?
Es ist beispielsweise schade, dass es in Deutschland kaum Kohortenstudien gibt, bei denen Kohorten nach wissenschaftlichen Kriterien zusammengestellt werden, um zum Beispiel zu überprüfen, welche Maßnahmen welchen Effekt gehabt haben. Da wurde eine wichtige Chance vergeben. Andere Länder machen das besser.
Würde ein Impfregister helfen, wie es im Zuge der Debatte zur Impfpflicht angeregt wurde?
Ein Impfregister würde sicher helfen, einen besseren Überblick zu möglichen Impflücken zu bekommen. Es müsste natürlich datensicher aufgebaut werden. Das ist aber machbar. Das Krebsregister hilft beispielsweise auch dabei, die Forschung zu verbessern, Therapien zu entwickeln und den Patienteninnen und Patienten zu helfen.
Im Herbst soll es etwa von Biontech und Moderna Impfstoffe geben, die an die Omikron-Variante angepasst sind. Rechnen Sie mit einer großen Nachfrage?
Erstmal muss man sagen, dass bereits die aktuellen Impfstoffe einen sehr guten Schutz vor schweren Verläufen bieten. Aus meiner Sicht haben wir das letzte Jahr ohnehin viel zu viel über einzelne Impfstoffe diskutiert. In meinen 30 Jahren Praxiserfahrung kann ich mich nicht daran erinnern, dass mich jemand mal gefragt, wer den Tetanus-Impfstoff hergestellt hat oder wo der herkommt. Auch der Verweis auf den sogenannten Totimpfstoff war ja von den Impfskeptikern offensichtlich nur eine Ausrede, denn ich kann bis heute keinen großen Run darauf sehen. Aber selbstverständlich hoffe ich im Herbst auf eine große Nachfrage, denn je höher die Grundimmunisierung ist, desto besser werden wir durch den Herbst und Winter kommen.
Derzeit ist die Nachfrage nach Impfungen allerdings so niedrig wie nie seit Beginn der Impfkampagne: Nur 2000 Erstimpfungen wurden laut RKI beispielsweise bundesweit am Freitag durchgeführt, 31.000 Boosterimpfungen verabreicht. Ist es trotzdem richtig, die Impfzentren zu Millionenkosten weiterzubetreiben, obwohl die Teams dort an manchen Tagen quasi im Leerlauf arbeiten?
Die Impfzentren haben zu Beginn der Impfkampagne eine Rolle gespielt, inzwischen stehen sie aber seit Monaten leer. Warum sie jetzt auch noch den gesamten Sommer weiterbetrieben werden sollen, erschließt sich mir überhaupt nicht. Das kostet viele Millionen Euro, die an anderer Stelle deutlich besser aufgehoben wären. Im Herbst mag eine regionale Unterstützung durch Impfzentren sinnvoll sein, ansonsten aber werden wir Hausärzte das mit unseren 50.000 Praxen auch wieder gut hinbekommen können – damit das gelingt, müssen Bund und Länder allerdings vorausschauend planen und die Kampagne entsprechend vorbereiten. Nicht alle müssen zwingend innerhalb von drei Tagen geimpft werden. Wir haben diesmal mehr Spielraum.
Zur vorausschauenden Vorbereitung gehört neben ausreichend Impfstoff und der Infrastruktur auch eine entsprechende Kampagne. Waren Sie damit bisher zufrieden?
Nein, die Kommunikation ist unterirdisch. Ich hätte mir mehr gewünscht einen Spruch wie „Wir krempeln die Ärmel hoch“, in Österreich habe ich beispielsweise sehr pfiffige Radiojingles mit einer sehr viel positiveren Kommunikation gehört. Ganz zu schweigen von Spanien, die dank ihrer hervorragend ausgebauten digitalen Infrastruktur Impftermine und Erinnerungen per SMS verschicken konnten. Wir kommen bei der Digitalisierung seit Jahren mit der bundeseigenen Digitalagentur Gematik nicht voran.
Arbeitet der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach hinsichtlich der Pandemie vorausschauender als sein Vorgänger Jens Spahn?
Der richtige Stresstest wird da sicher erst im Herbst kommen, das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Aber gewiss sollte er aus den bisherigen Fehlern lernen und beispielsweise daran arbeiten, dass die Datengrundlage deutlich verbessert wird. Wichtig ist auch, dass besonders vulnerable Gruppen in den Alten- und Pflegeheimen gut geschützt sind, nicht nur sie, sondern auch alle Mitarbeitenden sollten deshalb geimpft sein.
In vielen Bundesländern fangen demnächst die Ferien an. Können die Menschen sorglos in den Urlaub fahren?
Sorglos sollten sie nie in den Urlaub fahren, sondern sich immer über die Situation in den Ländern und Regionen vor Ort informieren. Grundsätzlich aber gilt: Umso geimpfter, desto weniger besorgt kann man sein und sich auf den Sommer freuen. Niemand sollte sich den Urlaub vermiesen lassen. Eine Maske im Gepäck zu haben, kann aber sicher nie schaden.