Rentendebatte „Ich halte den Appell des Kanzlers für blauäugig“

Scholz-Vorschlag zur Rente Quelle: Collage: Marcel Reyle

Mehr Menschen sollen erst mit 67 Jahren in Rente gehen, wünscht sich Kanzler Olaf Scholz. Der Aufruf allein bringt wenig, findet Ökonom Moritz Kuhn und sieht Arbeitgeber in der Pflicht: Wer die Arbeitslosenversicherung öfter belaste, müsse höhere Beiträge zahlen.

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WirtschaftsWoche: Herr Kuhn, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert, dass weniger Menschen vorzeitig in Rente gehen und mehr Beschäftigte bis zur Regelaltersgrenze arbeiten – künftig 67 Jahre. Ist das ein guter Vorstoß, um dem Arbeitskräftemangel in Deutschland zu begegnen?
Moritz Kuhn: Ich halte den Appell des Kanzlers für blauäugig, wenn sich an der Gesetzeslage nichts ändert, die eine abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren erlaubt. Das hat den gleichen Effekt, als würde man jemandem einen 100-Euro-Schein vor die Nase halten und sagen: „Du kannst das Geld haben, aber ich appelliere an dich, nimm es nicht.“

Fast zwei Millionen Menschen machen mittlerweile von dieser vorzeitigen Rente ohne Abschläge Gebrauch, die die Koalition aus Union und SPD auf Betreiben der Sozialdemokraten 2014 eingeführt hat. Das kostet die Rentenversicherung 3,4 Milliarden Euro im Monat...
...und hat den Boost für die Beschäftigung deutlich geschwächt, den gerade ältere Arbeitnehmer ausgemacht haben, seit die Rentenreform von 1989 es ab 2001 unattraktiver gemacht hatte, früher in Rente zu gehen. Jede Arbeitskraft, die früher in Rente geht, ist mit Kosten für die Allgemeinheit verbunden. Es werden weniger Steuern und Sozialbeiträge gezahlt und mehr Rente ausbezahlt. Das Geld für weniger Arbeiten liegt aber nicht auf dem Tisch, sondern muss erwirtschaftet werden.

Beschäftigte dürften sich davon allerdings kaum abhalten lassen – sie haben nun einmal das Recht, früher aus dem Berufsleben auszuscheiden, ob mit oder ohne Abschläge.
Wir dürfen die Rolle der Arbeitgeber nicht vergessen und sie an keiner Stelle aus der Verantwortung entlassen.

Wo kommen die Arbeitgeber denn ihrer Verantwortung nicht nach? 
Es gibt zu viele Unternehmen, die auf ihre Beschäftigten zugehen und ihnen Möglichkeiten aufzeigen, beispielsweise mit einer Abfindung und einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld früher den Betrieb zu verlassen, ohne dass die Mitarbeiter sich damit schlechter stellen. Das ist dann ein großer Anreiz, früher in Rente zu gehen und den Arbeitsmarkt zu verlassen. Einen Teil der Rechnung zahlt allerdings ein Dritter – nämlich die anderen Versicherten und der Steuerzahler.

Und was schlagen Sie gegen diese Praxis vor?
Ein sogenanntes „Experience rating“ wie in den USA, das heißt, ein Prinzip anzuwenden, das wir sonst bei jeder anderen Versicherung akzeptieren: Wer eine Versicherung öfter in Anspruch nimmt, muss auch höhere Beiträge zahlen.

Zur Person

Das klingt logisch für Autoversicherungen. Aber wie würde im Fall von Arbeitgebern und potenziellen Rentnern ein höheres Risiko definiert?
Wer als Unternehmen viel Arbeitslosigkeit verursacht, zum Beispiel auch viele Menschen mit Hilfe der Arbeitslosenversicherung früh in Rente schickt, müsste höhere Beiträge zahlen. Ein solches System zielt darauf ab, das sogenannte moralische Risiko zu verhindern, dass Arbeitgeber ihre Lohnkosten mit Hilfe der Sozialversicherung senken, indem sie immer wieder Leute in die Arbeitslosigkeit entlassen. Die Kosten für den entlassenen Arbeitnehmer zahlt dann die Allgemeinheit – für den einzelnen Betrieb entstehen keine Kosten dadurch. Das gilt im Übrigen auch für andere Leistungen wie das Kurzarbeitergeld: Untersuchungen aus Frankreich zeigen beispielsweise, dass die meisten Arbeitgeber das Instrument ausnutzen, um sich Lohnsubventionen abzuholen – ohne dass dadurch Arbeitsplätze gerettet werden.

Aber warum sollten Betriebe bestraft werden, wenn Beschäftigte auf ihr Recht pochen, vor dem Rentenregelalter aus dem Arbeitsleben auszuscheiden?
Wir hatten bereits in den 1980er-Jahren in Deutschland Regelungen, mit denen sich Arbeitgeber am Arbeitslosengeld beteiligen mussten, wenn sie ältere Beschäftigte entlassen haben. Wir könnten hier also auf Regeln zurückgreifen, die wir bereits in der Vergangenheit erprobt haben.

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Eine Dachdeckerfirma wird ihre Beschäftigten nur selten ab 60 voll weiterbeschäftigen können. 
Ich finde, man muss es andersherum sehen: Wenn immer behauptet wird, ein Dachdecker könne mit 63 nicht mehr weiterarbeiten – müsste da nicht das Unternehmen das Umfeld schaffen, damit das eben doch geht?

Und, wie könnte es gehen? 
Es gibt Aufgaben, bei denen jemand seine Erfahrung nutzen und weitergeben kann, aber im Fall eines Dachdeckers eben nicht mehr auf einem Dach stehen muss. Unternehmen müssen die Anreize für ihre Beschäftigten senken, frühzeitig auszuscheiden – indem man beispielsweise Prämien anbietet, wenn jemand auch noch ein 46. und 47. Jahr weiterarbeitet. Aber auch von staatlicher Seite, indem in diesen Jahren jeder weitere in die Sozialversicherung eingezahlte Euro mit vielleicht 1,20 Euro oder 1,30 Euro angerechnet wird, die Beiträge also mehr zählen.

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Warum sollten Unternehmen solche Prämien anbieten? 
Beispielsweise, weil sie einen Abschlag auf die Sozialbeiträge erhalten, wenn sie Leute halten, die eigentlich in Rente gehen wollen. Die entscheidende Frage in einer alternden Gesellschaft, in der vorhandene Arbeitskraft Älterer sonst in Freizeit gehen würde, ist doch: Wie können wir diese Arbeitskräfte weiterhin im Arbeitsmarkt halten und ihre Erfahrung und Arbeitskraft nutzen? Die Antwort kann nicht sein, dass alle Maßnahmen darauf hinauslaufen, dass Menschen ihr Arbeitsangebot reduzieren. Darüber muss sich die Politik klar werden – denn so wird es nicht weitergehen. 

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