Städteranking 2020 Der Pott wird flott

Der Phoenix-See ist ein Leuchtturmprojekt zum Strukturwandel im Ruhrgebiet. Er schafft Lebensqualität und zieht die gehobene Mittelschicht ins frühere Arbeiterviertel Dortmund-Hörde. Quelle: dpa

Das Ruhrgebiet bleibt die ökonomische Sorgenregion in Nordrhein-Westfalen. Doch auch an Rhein und Ruhr gibt es strukturelle Fortschritte und zunehmende Dynamik. Ein Besuch in Dortmund.

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Die Kanadagans hat eine rege Verdauung. Über 100 Kothaufen kann ein ausgewachsenes Tier pro Tag hinterlassen. Am Phoenix-See in Dortmund-Hörde sind die zugewanderten Tiere daher ein echtes Ärgernis. Die Stadt überlegt, wie man sie „freundlich dezimieren“ kann, sagt Regionalsoziologin Susanne Frank beim Spaziergang um den See. Es mutet fast ironisch an, dass sich ausgerechnet an einem Vorzeigeprojekt der Dortmunder Stadtentwicklung Tiere angesiedelt haben, die den Zauber des Neuen – weg von Stahl und Kohle, hin zu zukunftsträchtigen, innovativen Branchen – mit ihrem Dreck verunreinigen. Fast so, wie einst die Staubwolken des ehemaligen Stahlwerkes den Norden des Stadtviertels berieselt haben. Doch eines lässt sich im Naherholungsgebiet am Phoenix-See mit seinen Grasflächen und Radwegen trotz aller Gänsehaufen gut beobachten: Der Imagewandel, den der ökonomische Dauerpatient Ruhrgebiet durchläuft, trägt mittlerweile Früchte.

Am Dortmunder Phoenix-See erinnert kaum noch etwas an die industrielle Vergangenheit des Ortes. Früher war das Areal Teil des Stahlwerks Hoesch, das in den Neunzigerjahren vom Krupp-Konzern übernommen wurde. Das einzige historische Relikt am Wasser ist eine alte „Thomas-Birne“, ein sieben Meter hohes und 64 Tonnen schweres Konstrukt, das aussieht wie ein überdimensioniertes Ei. Mit ihm wurde früher Luft ins flüssige Roheisen geblasen und „Thomasstahl“ hergestellt, der zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren für so gut wie alle Stahlkonstruktionen genutzt wurde. Und heute? Die angrenzende Wohngegend war früher ein Arbeiterviertel, mittlerweile ist es auch für die wohlhabende Mittelschicht chic, hierher zu ziehen.

Auch andere Ruhrgebietsstädte sind im Wandel, und der lässt sich an vielen Facetten festmachen. Im diesjährigen großen Städtetest von WirtschaftsWoche, Immoscout und IW Consult bleiben die Großstädte des Ruhrgebiets in absoluten Zahlen zwar weiterhin an- und abgeschlagen. Im Niveauranking, das die Ist-Werte von 53 Einzelindikatoren vergleicht, liegen sie alle im hinteren Bereich. Am besten schneidet noch Mülheim an der Ruhr ab – auf Platz 48; das Schlusslicht des gesamten Niveaurankings heißt Gelsenkirchen, auf dem drittletzten Platz landet Herne.

Doch wenn man sich die Veränderungsraten anschaut – gemessen im Dynamikranking – sieht es deutlich besser aus. „Das Ruhrgebiet bietet mittlerweile gute Voraussetzungen für neues Wachstum. Hier sind produktive Inseln entstanden, die es zu verstärken gilt“, berichtet IW-Consult-Experte Hanno Kempermann, der wissenschaftliche Leiter der Studie. Dortmund etwa steigt bei der Dynamik in die Top 20 auf und verbessert sich im Vergleich zum Vorjahr um zehn Plätze auf Rang 16.

Dortmund wird vor allem als Arbeitsort attraktiver“, lobt Regionalforscher Kempermann. Die Beschäftigungsquote von Frauen etwa ist in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gestiegen, zugleich ging die Arbeitslosenquote jüngerer Arbeitnehmer unter 25 Jahren stark zurück (Platz 2 bundesweit). Auch die Lebensqualität nimmt zu: So ist zum Beispiel die Zahl der Straftaten zwischen 2014 und 2019 um fast 31 Prozent zurückgegangen, die Aufklärungsquote erhöhte sich um gleich acht Prozentpunkte. Zugleich schaffte es die Stadt, die Versorgung mit Kitaplätzen signifikant zu verbessern.

Positiv entwickelt sich auch Bochum: Die Stadt verbesserte sich im Dynamikranking um acht Plätze auf Rang 37. Oberhausen legte um zwölf Plätze zu, Herne und Duisburg um acht.

Im 19. Jahrhundert war das Ruhrgebiet wirtschaftlich stark und eine der wichtigsten Montanregionen Europas. Hier gab es Kohle und Stahl im Überfluss. Die Städte wuchsen, weil immer mehr Arbeiter kamen. Im ersten Weltkrieg galt die Produktion dort als kriegsrelevant. Doch mit der Kohlekrise Ende der Fünfzigerjahre endete im Ruhrgebiet die Ära der Prosperität. Bis heute ist die Region durchzogen von Zechen, alten Stahlwerken und Arbeitersiedlungen. Und bis heute hat die Region große Schwierigkeiten damit, ihr altes Image abzustreifen. „Während Unternehmen vor Ort der Region ein gutes Image attestieren, wird die Sichtweise von außen noch durch das alte Kohle- und Stahl-Image der Region geprägt“, moniert auch Kempermann.

Gerade in Dortmund fehlte es lange Zeit an Lebensqualität, um qualifizierte Fachkräfte für zukunftsträchtige Branchen anzuziehen, berichtet Regionalsoziologin Frank beim Spazierganz um den See. Zwar ist Dortmund de facto eine Großstadt, doch durchzogen von mehreren kleinen Zentren. „Es gab hier wenige Wohngebiete, die – vor allem auch ästhetisch – den Ansprüchen der oberen Mittelschichten genügt hätten.“ Deshalb der Phoenix-See, der einen Teil Dortmunds attraktiver machen soll. Das Leuchtturmprojekt sollte vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte anziehen – von denen gibt es im Ruhrgebiet vergleichsweise wenig. Gerade einmal 13,6 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben einen akademischen Abschluss. Zum Vergleich: Berlin kommt auf knapp 28 Prozent an hochqualifizierten Arbeitskräften, in München sind es mehr als 35 Prozent.

Der Arbeitsmarkt ist aber nicht das einzige Potenzial, das der Ruhrpott nutzen könnte, um den Strukturwandel zu beschleunigen und sein Image aufzubessern. Insgesamt leben mehr als fünf Millionen Menschen im Ruhrgebiet, damit ist es der größte Ballungsraum Deutschlands. Vor allem in der Forschung zu Zukunftsfeldern wie Künstlicher Intelligenz, Industrie 4.0, IT-Sicherheit und umweltfreundlichen Technologien mischen die Institute des Ruhrgebiets vorne mit, heißt es in einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft und des Ruhr-Forschungsinstituts. Auch im Bereich Innovationen steht die Metropole Ruhr gut da. Die Studienautoren gehen sogar so weit, das Ruhrgebiet mit dem Berlin der 2000er-Jahre zu vergleichen. Die Bedingungen gerade für Start-up-Gründungen seien hier ziemlich gut. Das Ruhrgebiet als neues Berlin? Die ansässigen Unternehmen jedenfalls glauben, dass ihre Region Potenzial hat, noch dynamischer und lebenswerter zu werden. Mehr als 70 Prozent gaben das in einer Umfrage an.

„Die dichte und bereits hervorragend aufgestellte Wissenschaftslandschaft ist eine der großen Stärken des Ruhrgebiets“, sagt Regionalforscher Kempermann. 22 Hochschulen gibt es im Ruhrgebiet, davon fünf Universitäten. Auf die Fläche gerechnet hat das Ruhrgebiet damit eine dichtere Hochschullandschaft als Berlin-Brandenburg, Hamburg oder Stuttgart. Mehr als 80 Forschungseinrichtungen, darunter Fraunhofer- und Max-Planck-Institute komplettieren die geballte Forschungsstärke im Ruhrgebiet. Ein Vorteil ist dabei die räumliche Nähe, sagt Maria Beck vom „Digital Innovation Hub Logistics“ in Dortmunder Technologiepark.  Die Forschung ist nur eine Straßenseite entfernt, direkt gegenüber liegen die Universität und zwei Fraunhofer-Institute. Beck: „Die räumliche Nähe zu Wissenschaftspartnern ist für uns essenziell.“

Deutschlands zukunftsfähigste Städte
Städteranking: Stuttgart auf Platz 10 im Nachhaltigkeitsindex 2020 Quelle: imago images
Städteranking: Ulm liegt auf Platz 9 im Nachhaltigkeitsindex Quelle: ddp images
Städteranking: Potsdam liegt auf Platz 8 im Nachhaltigkeitsindex Quelle: ddp images
Städteranking: Darmstadt auf Platz 7 im Nachhaltigkeitsindex Quelle: imago images
Städteranking: München auf Platz 6 im Nachhaltigkeitsindex Quelle: dpa
Städteranking: Erlangen auf Platz 5 im Nachhaltigkeitsindex Quelle: imago images
Städteranking: Wolfsburg auf Platz 4 im Nachhaltigkeitsindex Quelle: dpa

Der „Digital Innovation Hub Logistics“, in dem Beck arbeitet, ist eine Ausgründung des Fraunhofer-Instituts und versucht, die Logistikbranche in Deutschland zu digitalisieren. Er ist Teil der de:hub-Initiative, bei der das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zwölf Hubs für digitale Innovationen fördert. „Dadurch entstehen große Projekte mit Strahlkraft in der ganzen Region“, erzählt Beck. Kleine und mittlere Unternehmen entsenden Mitarbeiter für bestimmte Digitalprojekte zum „Hub“, wo sie das „Innovations-Ökosystem“ direkt vor sich haben. Kontakte zu Softwareentwicklern, UX-Designern, Absolventen und Wissenschaftlern sind durch die räumliche Nähe leicht herzustellen. Die Teams bekommen hier einen Arbeitsplatz, Kontakte, Beratung und ein Zusatzbudget – ein Teil des Geldes, was ihr Unternehmen für die Entsendung in den Hub zahlt, können die Innovationsteams frei nutzen, um externe Dienstleister ohne lange Prozesse einzukaufen. „Normalerweise ist die Bude voll“, sagt Beck, während sie durch die coronabedingt eher leeren Open-Space-Büroflächen führt. Gerade zeugen hier nur Prototypen, die Teams dagelassen haben, davon, dass hier sonst fünf bis sechs Gruppen zusammensitzen. Die meisten Unternehmen, die Mitarbeiter für digitale Projekte hierhin entsenden, kommen aus der Region, die Teams sitzen in Dortmund also nahe beim Mutterkonzern.

Ortswechsel. Beim Start-up MotionMiners gibt es für Sascha Feldhorst gerade viel zu tun. Zeit für ein Telefonat hat er trotzdem, während er sich von seinen Kollegen verabschiedet und ins Auto steigt. Er sei ein „Kind des Ruhrgebiets“ erzählt er lachend, schon der zweite Teil des Namens seines Start-ups verrät, wo es herkommt – ein „Miner“ ist ein Bergmann. Er sei sehr bodenständig, fleißig, packe gerne selbst mit an und sei der Industrie verbunden, „typisch Ruhrgebiet“.

Seine Firma ist eine Ausgründung des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik. Feldhorst, einer der drei Gründer, hat bereits Projekte auf der ganzen Welt. „Schon unser zweites Projekt war außerhalb Deutschlands in Tschechien.“ Mittlerweile bearbeiten sie von ihrem Stammsitz in Dortmund aus Aufträge aus Malaysia, Kanada oder Slowenien. Das Start-up optimiert Prozesse in der Industrie und Logistik über smarte Sensoren, die die Arbeitsabläufe der Mitarbeiter scannen. Hier muss niemand mehr mit dem Klemmbrett in der Werkshalle stehen und stoppen, wie lange die Mitarbeiter für einen Arbeitsschritt brauchen, und wo Verbesserungspotenzial liegt – das Ganze funktioniert nun digital. Mithilfe von künstlicher Intelligenz werden die Sensordaten ausgewertet. Das alles made in Dortmund.

Mit Blick auf die Start-up-Szene ist das Ruhrgebiet zwar noch lange kein Berlin, doch sowohl Beck als auch Feldhorst schätzen genau das an ihrer Region. „Hier ist es deutlich einfacher, als Start-up wahrgenommen zu werden“, sagt Feldhorst. Der Konkurrenzkampf der jungen Unternehmen um Mitarbeiter sei noch nicht so stark, so könne man hier langfristige Teams aufbauen. „In Dortmund ist es leichter, an Talente zu kommen, an Blüten, die sich vielleicht nicht nach Berlin trauen und sich hier dann richtig entfalten“, sagt auch Beck. Bisher gibt es im Ruhrgebiet auch vergleichsweise wenige Unternehmensgründungen: Hier liegt Dortmund mit 25 Gründungen pro 10.000 Erwerbsfähige auf Platz 60. In Gelsenkirchen, dem bestplatzierten der Ruhrgebietsstädte sind es über 36 Gründungen. Doch auch das kommt lange nicht an den Spitzenreiter Frankfurt mit 65 Gründungen heran.

Diese Städte haben sich am besten entwickelt
Städteranking: Stuttgart liegt auf Rang 10 im Dynamikranking Quelle: imago images
Städteranking: Nürnberg auf Platz 9 im Dynamik-Ranking Quelle: imago images
Städteranking: Leipzig auf Platz 8 im Dynamik-Ranking Quelle: dpa
Städteranking: Ulm liegt auf Platz 7 im Dynamikranking Quelle: imago images
Städteranking: Lübeck liegt auf Platz 6 im Dynamikranking Quelle: imago images
Städteranking: Frankfurt am Main auf Platz 5 im Dynamik-Ranking Quelle: dpa
Städteranking: Erlangen liegt auf Platz 4 im Dynamikranking Quelle: imago images

Ein Pluspunkt im Ruhrgebiet sind auch die niedrigen Wohnungspreise. So kostet in der teuersten Ruhrgebietsstadt Mülheim der Quadratmeter in der Mietwohnung 7,80 Euro, in Dortmund und Essen sind es 7,60 Euro. Die günstigste Stadt im Ruhrgebiet ist Gelsenkirchen mit einem Quadratmeterpreis von 6,10 Euro, das wird nur noch von Chemnitz mit 5,40 Euro pro Quadratmeter geschlagen. Zum Vergleich: In München zahlen Mieter 17,30 Euro pro Quadratmeter.

Auch Maria Beck vom Logistik-Hub wollte eigentlich nicht in Dortmund bleiben, ist dann aber „hängengeblieben“, wie sie es ausdrückt. Fürs Studium ging sie vor mehr als 20 Jahren nach Dortmund, weil man nur dort ein Diplom in ihrem Studienfach machen konnte. Nun lebt sie immer noch dort und weiß viele Vorzüge zu schätzen: „Dortmund liegt in puncto Attraktivität weit hinter Berlin, ist aber nicht so überlaufen, nicht so touristisch, sondern regional, hat Charme und die ‚echte Liebe‘, wie BVB-Fans sagen.“ Dortmund sei nicht überstrapaziert oder „überhypt“, es stille die Sehnsucht nach einer gesunden Realität. „Dortmund übertreibt nicht“, fasst sie es zusammen, und: „Schön ist die Stadt zwar nicht. Aber zum Leben sehr angenehm.“

>> Hier finden Sie alle Beiträge zum großen Städteranking der WirtschaftsWoche.
>> Was macht Städte stark? Im Podcast spricht Regionalökonom Jens Südekum über die wichtigsten Standortfaktoren – und die Chancen der Provinz.

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