Steuerzinsen Verfassungsgericht kippt 6-Prozent-Wucherzins – folgt bald auch der Soli?

Wieder einmal muss das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe die Regierung in Berlin zwingen, das Offenkundige zu tun. Quelle: dpa

Sechs Prozent Zinsen auf Steuernachforderungen und -erstattungen? Verfassungswidrig. Einmal mehr müssen die Karlsruher Richter die Regierenden zum Offensichtlichen zwingen. Ein Kommentar.

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Die Überschrift aus Karlsruhe ist eindeutig: „Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit jährlich 6 % ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig“. Mit ihrem am 18. August 2021 veröffentlichten Beschluss bereitet das Bundesverfassungsgericht der seit Jahren nicht mehr zu rechtfertigenden sechsprozentigen Strafsteuer ein Ende.

Überraschen kann das niemanden, der verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten für sein Geld sucht. Sechs Prozent bietet nicht einmal die obskurste Bank, schon seit zehn Jahren nicht mehr. Nur der Fiskus blieb unverdrossen bei 0,5 Prozent Verzugszins pro Monat bei Steuernachforderungen, die über eine Karenzzeit von 15 Monaten hinausgingen. Ein staatlicher Wucherzins, sagten Kritiker. Immerhin hatte das Bundesfinanzministerium vor drei Jahren die Finanzämter angewiesen, den Vollzug dieses Wucherzinses angesichts der Verfassungsklage erst einmal auszusetzen. Zu mehr aber war Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nicht bereit. Keine Überprüfung, keine Senkung des Fiskalzinses!

Wieder einmal muss das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe die Regierung in Berlin zwingen, das Offenkundige zu tun, zu dem die Politiker aus welchen Gründen auch immer selbst nicht bereit sind. „Nach der Entscheidung zur Grundsteuer ist dies die nächste Klatsche für Olaf Scholz vom Bundesverfassungsgericht“, merkt Lisa Paus trocken an, Sprecherin für Finanzpolitik in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Bei der Senkung des Fiskalzinses kann man spekulieren, warum erst Wolfgang Schäuble und dann Olaf Scholz nicht handeln wollten. Wahrscheinlich war es das Geld, war es die rund eine Milliarde Euro, die Bund und Länder bei den Verzugszinsen Jahr für Jahr kassierten (netto, nach Verrechnung mit den ebenfalls sechs Prozent Erstattungszinsen). Da war es offenbar egal, dass der Marktzins längst und dauerhaft an der Null-Prozent-Linie vor sich her dümpelte.

Eigentlich ist auch die nächste „Klatsche“ für den nächsten Finanzminister absehbar: beim Solidaritätszuschlag. Auch hierzu liegen Klagen beim Bundesverfassungsgericht vor. Selbst im Bundesfinanzministerium warnen Beamte seit Jahren, dass ein weiteres Aufrechterhalten dieser Sonderabgabe zum Aufbau Ost nach drei Jahrzehnten gegen das Grundgesetz verstoßen könnte – insbesondere auch die mittlerweile teilweise Beibehaltung des Soli bei höheren Einkommensbeziehern. Aber die Zurücknahme einer Sonderbelastung für Höherverdienende geht der SPD contre Coeur, und die Union weiß nicht recht, ob man auf die gut zehn Milliarden Euro aus dem Rest-Soli wirklich verzichten will. Also muss das Bundesverfassungsgericht einmal mehr entscheiden.

Beim aktuellen Urteil zum sechsprozentigen Fiskalzins erweisen sich die Verfassungsrichter übrigens als sehr kulant gegenüber dem Fiskus. Zwar erklären sie den hohen Zinssatz für die Zeit ab 2014 für verfassungswidrig. Allerdings muss der Staat erst für Veranlagungszeiträume ab 2019 aktiv werden. Die bis dahin einkassierten Zinsen darf der Staat trotz festgestellter Verfassungswidrigkeit also behalten. Bis Ende Juli nächsten Jahres muss nun eine Neureglung erfolgen. Das Bundesfinanzministerium ließ in einer ersten Reaktion erkennen, dass sich erst die nächste Bundesregierung damit befassen werde – also kein Fall für den Wahlkämpfer Olaf Scholz, der in diese Niederungen seines Geschäftsbereichs nicht mehr hinabsteigen will.

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Da ist es offenbar auch egal, dass die Verfassungsrichter explizit einen Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz festgestellt haben, also gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. Alle Menschen sind danach gleich zu behandeln, auch Steuerschuldner. Wer später seine Steuerschuld begleicht, soll danach nicht besser, aber auch nicht schlechter gestellt werden als derjenige, der frühzeitig seinen Obolus entrichtet hat. Wobei gerade bei Unternehmen eine späte Steuernachzahlung nicht unbedingt mit einer Verweigerungshaltung zu tun hat, sondern oft mit einer späten Betriebsprüfung und Steuerfestsetzung vom Finanzamt zusammenhängt. Für derart betroffene Unternehmen kann die extrem lange Bearbeitungszeit ihrer Steuererklärungen durchaus existenzgefährdend sein, gerade bei sechs Prozent pro Jahr. Auch hier müsste die Politik längst tätig geworden sein. Doch womöglich bedarf es auch hier einmal mehr einer Entscheidung aus Karlsruhe, um die Finanzbehörden in diesem Fall zu einer etwas flotteren Gangart und Rechtssicherheit für die Steuerpflichtigen zu zwingen.

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