Streit ums Bürgergeld Streit ums Bürgergeld: Wie groß ist das Problem Totalverweigerer wirklich?

Sind Arbeitsverweigerer wirklich so ein großes Problem für den deutschen Sozialstaat und Arbeitsmarkt? Quelle: imago images

Die Union möchte das Bürgergeld abschaffen. Im Zentrum der Debatte: Sogenannte „Totalverweigerer“ sollen kein Geld mehr vom Staat bekommen. Doch was bringt das? Und wie viele dieser Problemfälle gibt es überhaupt?

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Die Union macht derzeit immer wieder mit markigen Worten und Forderungen auf sich aufmerksam. Jüngstes Beispiel: Das Bürgergeld – das mit Unterstützung der Union beschlossen wurde – soll wieder abgeschafft werden. Stattdessen soll eine „neue Grundsicherung“ greifen.

Auch wenn der CDU-Arbeitnehmer-Beauftragte Dennis Radtke unermüdlich betont, dass die neuen Unionsvorschläge sehr viel Konstruktives beinhalteten, etwa für die Wiedereingliederung Arbeitsloser auf den Arbeitsmarkt, so hat sich die Debatte doch sehr schnell auf einen Aspekt fokussiert: die sogenannten Totalverweigerer.

Die möchte die Union von ihrer neuen Grundsicherung ausnehmen. „Lehnt ein arbeitsfähiger Grundsicherungsempfänger ohne sachlichen Grund eine ihm zumutbare Arbeit ab („Totalverweigerer“), soll zukünftig davon ausgegangen werden, dass er nicht bedürftig ist“, heißt es im Parteibeschluss. Im Klartext: Er (oder sie) bekommt kein Geld mehr.

Schnell erhitzten sich die Gemüter, schließlich wäre in solches Sparen ein harter Bruch mit dem gängigen Fürsorgeprinzip. Doch wie groß ist das Problem dieser „Totalverweigerer“ wirklich? Und was brächte der harte Schritt?

Selbst Unionspolitiker räumen ein, dass eine Definition der Totalverweigerer schwierig ist und damit natürlich auch jede Handhabe. Wie oft muss man ein Jobangebot ablehnen, um zum Totalverweigerer zu werden?

Eine Anfrage bei der Bundesagentur für Arbeit offenbart immerhin einen Näherungswert: Die erfasst in ihrer Statistik den Minderungsgrund „Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses“. Das käme einer Totalverweigerung gleich.

Würde dieses Kriterium bei der neuen Grundsicherung der Union angelegt, so hätten in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres knapp 14.000 Menschen auf ihre Grundsicherung verzichten müssen. So viele Verstöße registrierte die Arbeitsagentur in diesem Zeitraum (für Dezember liegen noch keine Zahlen vor).

Zum Vergleich: Im selben Zeitraum wurden insgesamt gut 180.000 Menschen sanktioniert. Die allermeisten von ihnen, nämlich etwa 80 Prozent, wegen Meldeversäumnissen. Die würden jedoch auch bei der Union nicht unter „Totalverweigerung“ fallen.

Und die Zahl derer, die sich in der engen Definition weigern, eine Arbeit aufzunehmen, ist in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen: von 183.000 im Jahr 2007 auf 52.000 im Jahr 2021, dem vorerst letzten Jahr mit vollständiger Statistik.



Das liegt allerdings nicht unbedingt daran, dass die Menschen fügsamer geworden wären, sondern vor allem an der rechtlichen Grundlage: Der Knick in der Verstoß-Statistik im Jahr 2020 ist auf die Coronapandemie zurückzuführen, wegen der die Sanktionen zeitweise ausgesetzt wurden. Im Vorfeld der Einführung des Bürgergeldes wurden erneut für ein Jahr die meisten Sanktionen ausgesetzt. Noch deutlicher wird dies, wenn man sich die Statistik der Verstöße insgesamt anschaut:



Mit dem Bürgergeld wurden dann niedrigere Sanktionen festgeschrieben: Bezüge können nun nur noch um bis zu 30 Prozent gekürzt werden und das auch nur, wenn die Wohnkosten vorher herausgerechnet wurden. Je häufiger jemand gegen die Regeln verstößt, desto schärfer sind die Sanktionen und desto länger halten sie an. Bis 100 Prozent gehen sie allerdings niemals.

Das hat nicht nur soziale Gründe: Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2019 beschlossen, dass das Existenzminimum gesichert sein muss. Eine Kürzung der Hilfen um 100 Prozent wäre damit rechtlich gar nicht zulässig.

„Sanktionen früher beginnen und länger laufen lassen“

Ohnehin geht die Frage nach den Totalverweigerern am Kern des Problems vorbei. Derzeit beziehen etwa vier Millionen erwerbsfähige Menschen Bürgergeld. In Zeiten des Arbeitskräftemangels ist die Frage, wie dieses Potenzial gehoben werden kann – und weniger, ob man 14.000 Menschen ans Existenzminimum treiben kann und will.

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Dabei muss einerseits über Arbeitsanreize gesprochen werden, andererseits aber durchaus auch über Sanktionen generell, wie Ökonom Enzo Weber unlängst im Interview mit der WirtschaftsWoche sagte. Also nicht nur um Totalverweigerer. Dabei sei das richtige Maß entscheidend. „Wenn Sie richtig hart zulangen, wenden sich Menschen womöglich vom System ab und verschwinden aus der Arbeitsvermittlung“, sagt Weber. „So müsste man bei Verstößen das Bürgergeld nicht komplett streichen, könnte aber dafür mit Sanktionen früher beginnen und sie länger laufen lassen.“

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