Tauchsieder
Quelle: dpa

20 Prozent für Höcke?

Am Sonntag werden sich mal wieder alle fragen: Wie konnte das passieren? Hier ein paar Gründe. Und eine kleine Leseempfehlung zum Wahltag.

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Die einen klettern von links herauf, die anderen von rechts, ganz gleich: Hauptsache schnell rauf auf die Zinne der Moral im Namen des größtmöglich Guten und Hehren, der letztgültigen Prinzipien und Ziele.

Von einer solchen Zinne ist gut rufen und richten. Man ist der Wirklichkeit dort glücklich enthoben und kann Widerstand gegen Bedrohungen leisten, die es nicht gibt, gegen Behauptungen, die niemand aufgestellt hat. Man kann sich dort oben leicht gegen das Böse in Stellung bringen, obwohl es einem gar nicht auf den Pelz rückt. Und kann dort prima Widerstand mobilisieren gegen allerlei -Ismen, von deren Existenz und Risiko die ahnungslose Menschenmenge erst im Wege des Widerstandsaufrufs eine erste Ahnung bekommt.

Alice Hasters zum Beispiel. Die Journalistin unterstellt in einem Interview „weißen Menschen“, dass sie, „auch wenn sie gute Absichten haben, trotzdem Rassismen in sich tragen“ – weshalb es für diese „weißen Menschen“, wollten sie Verbündete im Kampf gegen Rassismus sein, darum gehe, ihren „Rassismus anzuerkennen und nicht zu versuchen, die Ausnahme zu sein: Die Ausnahme-Weiße-Person, die nicht rassistisch ist. Das hilft mir nicht, weil das stimmt auch nicht.“

Alice Hasters liefert damit ein typisches Beispiel für einen Meinungsbeitrag, der eine öffentliche Debatte nicht etwa anstoßen, sondern ersticken soll, der kein Argument aufs Forum tragen, sondern ein Urteil exekutieren will. Eine zirkulärkausale Killerbehauptung („weil das stimmt auch nicht“) erspart Argumente, Gründe, Beweisaufnahme: Der weiße Mensch ist schuldig, fertig – und bei Schuldanerkenntnis gibt’s maximal mildernde Umstände.

Was verspricht sich eine Buchautorin wie Alice Hasters von einem Denken in ethnisch-rassischen Mono-Identitäten und verallgemeinerten Täter-Opfer-Kategorien? Dass weiße Menschen auf Barack Obama blicken wie auf einen schwarzen Drogendealer im Görlitzer Park? Dass sich Menschen künftig nicht nur zivil, also höflich und zurückhaltend, sondern besser auch neuronalneutral optimiert begegnen sollen, so dick, vermummt, grün, sexy oder kariert sie auch aussehen? Die Ausmerzung aller diskreten Reste von Neugier, mit der die meisten Menschen überall in aller Welt heute Menschen als Menschen begegnen, das Alltägliche weniger aufmerksam musternd, das Nicht-Alltägliche mehr? Was wäre, nach der rechtlichen Verfolgung, politischen Bannung und gesellschaftlichen Ächtung des Rassismus in Deutschland, damit gewonnen?

Unterstellte man Hasters schlechte Absichten, wäre ihr der Versuch einer Einschüchterung, der pauschalen Denunziation, sogar biopolitischer Tribalismus vorzuwerfen: Bekenne dich, Weißer, Rassist zu sein! Unterstellt man ihr beste Absichten, kennzeichnet ihr Beitrag nicht das Problem (Rassismus), sondern seine weitgehende Abwesenheit: Offenbar muss man heute den neuronalen Alltagsrassismus des deutschen Normalbürgers bekämpfen, weil er sich offen und politisch nur noch bei Wenigen dingfest machen lässt.

Ist sich Alice Hasters bewusst, dass ihre Problemverschleierungsmethode der der BILD-Zeitung gleicht? Das Blatt, seit Jahrzehnten ein Synonym für Scheinheiligkeit und böse Vorurteilspflege, hat in diesen Tagen neben der Grünen-Politikerin Claudia Roth auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) an den Antisemitismus-Pranger gestellt: „Steinmeier trauerte zwar betroffen um die Opfer von Neonazi Stephan Balliet in Halle. Aber er gratulierte auch den Mullahs herzlich zum 40. Jahrestag der Revolution und hisste die iranische Flagge der Judenhasser vor Schloss Bellevue. ‚Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem‘, sagt Historiker Michael Wolffsohn.“

Was soll das? Reicht es nicht, Steinmeier und Roth scharf dafür zu kritisieren, dass sie iranische Politiker womöglich viel zu freundlich umgarnen? Offenbar nicht. In der Logik der BILD müsste man auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Hass und pauschale Feindschaft gegenüber dem uigurischen Volk attestieren, weil sie chinesischen Staatspräsidenten regelmäßig die Hand schüttelt. Auch hier gilt: Die BILD markiert kein Problem, sondern marginalisiert es und vernebelt es im Wege des Falschalarmismus – indem sie Antisemitismus verallgemeinert, seinen Kern unkenntlich macht.

Es ist Zeit für eine Entpörungsoffensive

Das alles ist umso bedrückender, als Antisemitismus und Rassismus seit wenigen Jahren wieder auf dem Vormarsch sind in Deutschland. Weil die AfD des rechtsextremen Politikers Björn Höcke an diesem Wochenende in Thüringen womöglich zwanzig Prozent einsammelt. Und weil sich etwa in der Zusammenfassung der aktuellen Shell-Jugendstudie Sätze finden wie: „Bestimmte rechtspopulistische orientierte Aussagen stoßen auch bei Jugendlichen auf Zustimmung. So stimmen mehr als zwei Drittel der Aussage zu, dass man nichts Negatives über Ausländer sagen darf, ohne als Rassist zu gelten.“

Fällt den Studien-Autoren überhaupt noch auf, was sie da schreiben? Dass sie in kritischer Absicht das Narrativ der Rechtspopulisten von der gestörten Meinungsfreiheit übernehmen – und den Jugendlichen als Beleg dafür Rassismus durchgehen lassen? Wenn zwei Drittel der Jugendlichen beklagen, sie dürften nichts Negatives über Ausländer als Ausländer sagen, haben wir kein Problem mit Jugendlichen, die nicht ihre Meinung sagen dürfen, sondern mit Jugendlichen, die nicht wissen, was rassistisch ist: Man kann und muss (auch) Ausländer kritisieren, wenn es dafür Gründe gibt. Aber man darf sie nicht als Ausländer kritisieren. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?

Es ist daher höchste Zeit für eine doppelte Entpörungsoffensive: Gesinnungswächter, die nur darauf lauern, Demokraten als Zuarbeiter des rechten Randes zu verunglimpfen (die Liste reicht von Monika Maron über Rüdiger Safranski bis Joachim Gauck und Mathias Döpfner), helfen im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus so wenig wie hilflose Politiker und Journalisten, die die Höckes und Gaulands dieser Welt beschimpfen – anstatt sie argumentativ und rhetorisch vorzuführen, immer wieder, sie wieder und wieder zu stellen für „Vogelschiss“, „Messermänner“, und „Denkmal der Schande“, für „in Anatolien entsorgt“, „mit Stumpf und Stiel vernichten“ und „Wir wollen uns unser Land und unser Volk zurückholen.“

So wie es der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in seinem kleinen Bändchen „Was heißt hier ‚wir‘? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ getan hat: eine sprachkritische Dekonstruktion des AfD-Rassismus, ein germanistisches Gerichtsverfahren sozusagen, an dessen Ende keinen Zweifel daran besteht, wonach Höcke und Gauland der Sinn steht: nach der Einheit von Partei und Volk – gegen alle, die sich seit dem 8. Mai 1945 zu Demokratie, Westbindung und offener Gesellschaft bekannt haben.

Detering bringt mit diesem schmalen Bändchen, gleichsam von der stillen Studierstube aus, mehr Substanz und Argumentationskraft in Stellung gegen die AfD-Ideologie als (fast) alle Politiker und Journalisten zusammen, die sich in den vergangenen Jahren so eifrig echauffierten, im Fernsehen und in den Sozialen Medien. Und die am Sonntag wieder mal nicht fassen können, wie das bloß passieren konnte: 20 Prozent für Höcke.

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