Tauchsieder Deutschlands High-Potentials

Die Superlose der Kunst-Saison: Kirchners blaues Mädchen in der Sonne sowie Beckmanns Selbstbildnis in gelb-rosa Quelle: PR

Krieg, Inflation, Rezession? Die führenden Kunstauktionshäuser in Deutschland kann das nicht erschüttern: Ketterer und Grisebach positionieren sich als exklusive Boutiquen, punkten mit internationalen Toplosen – und erobern munter Marktanteile in Europa.

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Die Kunst und der Kunstmarkt haben es schwer in diesem Jahr. Sollte man meinen. Der Krieg, die Inflation, das Rezessionsrisiko – der Raum fürs Ästhetische schrumpft, wenn einem das Politische und Ökonomische auf den Leib rücken, der Sinn fürs Schöne und Sublime verkümmert, wenn Sorgen und Bedenken den Alltag regieren. Die meisten Menschen müssen ihr Geld jetzt zusammenhalten. Sie denken an Strompreise und Bankkredite, Rechnungen und Abschlagszahlungen, jedenfalls nicht daran, sich in eine Knappheitskrise hinein zu verschwenden, sich etwas Außergewöhnliches zu leisten. Einen Max Beckmann etwa. Oder einen Ernst Ludwig Kirchner.

Und dann sind da noch die Bilderstürmer der „Letzten Generation“, die die Van Goghs und Monets dieser Welt gerade mit Verachtung überschütten, also mit Tomatensuppe und Kartoffelbrei. Die sich festkleben an Bilderrahmen und Museumswänden, vor einem Vermeer oder Raffael, Giotto oder Poussin, Cranach oder Constable, ganz gleich, in Frankfurt oder Dresden, London oder Melbourne, Potsdam oder Padua. Den Pseudo-Ikonoklasten geht es erkennbar nicht darum, Bilder zu zerstören. Sie wollen schlicht zeigen, dass die meisten Menschen Ikonen der Kunstgeschichte immer noch einen höheren (emotionalen) Wert beimessen als der Erhaltung der Lebensgrundlagen - und dass diese Werthierarchie genau umgekehrt gehört: Nach der Apokalypse ist alle Kunst nichtig.   

Das Problem ist, dass sich die so genannten „Aktivisten“ von „Extinction Rebellion“ und der „Letzten Generation“ dabei  schon ihren Namen nach ermächtigen, den Nachlass der Menschheit vor das Gericht der Jüngsten zu zerren - dass sie sich mit ihrer negativen Eschatologie zu Wächtern über das Himmlische und Höllische erklären. Und dass sie sich in ihren Attacken gleich doppelt irren, nämlich in der Wahl ihrer Ziele und Mittel: Wie kommt man bloß darauf, das Weltkulturerbe gegen das Weltnaturerbe ausspielen zu sollen? Was um Himmels willen kann Botticelli für den Klimawandel? Immerhin, man versteht inzwischen wieder besser, was man sich unter „blinder Wut“ vorzustellen hat: destruktiv entäußerte Verzweiflung.

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Das alles ist auch deshalb traurig, weil gerade die Kunst sinnbildlich dafür steht, dass Nonkonformismus und Zorn, Resignation und Widerstandswille sich in schöpferische Kraft und eine schier überbordende Gewalt des Schaffens entladen kann: „Mit dem Glauben an Entwicklung an eine Generation der Schaffenden“, so Ernst Ludwig Kirchner 1906 in der Programmschrift der „Brücke“-Künstler, rufe man die Jugend zusammen: „Und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften.“ Max Beckmann wiederum, von den Nazis verfemt und verfolgt als „Kunstmisshandler“, inthronisiert in den Dreißiger- und Vierzigerjahren sich selbst zum Souverän gegen das Böse, Schwarze und Ausweglose, zum absolutistischen „Künstlerkönig“ inmitten des Welttheaters, dem Selbstbehauptung und Selbstverpflichtung zu Energiequellen werden – und der sich dann im Amsterdamer Exil nurmehr eigenen, höchsten Ansprüchen verpflichtet wissen kann, sich mithin zum unberührbaren Fürsten seines Schaffens, zum selbstanspruchsvollen Regenten seines Lebens erhebt.

Klimaprotest mit Kartoffelbrei auf einem Monet. Quelle: dpa Picture-Alliance

Es ist daher fast schon ironisch, dass die beiden wichtigsten Kunstauktionshäuser in Deutschland in ihren Herbstauktionen Anfang Dezember zwei Toplose anbieten, die beispielhaft von der weltverändernden Kraft der Kunst zeugen: Marktführer Ketterer aus München versteigert das Hauptwerk aus der „Brücke“-Sammlung des Würzburger Unternehmers Hermann Gerlinger, Kirchners „Das blaue Mädchen in der Sonne“ (Taxe: zwei bis drei Millionen Euro) aus dem Jahr 1910. Und Grisebach bringt Max Beckmanns fantastisches „Selbstbildnis gelb-rosa“ aus dem Jahr 1943 unter den Hammer: eine seltene Gelegenheit für geldreiche Sammler, eine Sensation für das Berliner Auktionshaus – und ein weithin tönendes Aufbruchssignal für den deutschen Kunstauktionsmarkt zugleich.

Beckmanns Bild und sein Verkauf in Deutschland sind ein nationales Kunstereignis ersten Ranges. Noch nie wurde hierzulande ein Werk vergleichbarer Güte, ähnlichen Wertes angeboten. Der bisherige Auktionsrekord in Deutschland (Max Beckmanns „Die Ägypterin“, 5,5 Millionen Euro inklusive Aufgeld, im Jahr 2018 bei Grisebach) dürfte um ein Vielfaches übertroffen werden. Selbstbildnisse Max Beckmanns zieren die wichtigsten Kunstsammlungen der Welt. Sie sind sehr knapp in privater Hand. Und Grisebach bringt zweifellos ein herausragendes Beispiel Beckmannscher Selbsterkundung zum Aufruf: Der mönchische Gestus der Hände und das Shaolingelb seines Morgenrocks, erst recht das verschattete Gesicht, der ruhig wissende Blick und das angedeutete Selbstbewusstseinslächeln spiegeln am Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte (1943) nicht weniger als die Unantastbarkeit der Menschenwürde: Freiheit und Leben kann man mir nehmen, malt Beckmann, meine Selbstachtung nicht. Die Schätzungen für das Meisterwerk? Grisebach darf mit zwanzig Millionen Euro rechnen – wahrscheinlich werden es deutlich mehr.

Für Grisebach ist es der katapultartige Sprung in eine neue Dimension: Der Mittelständler erwirtschaftet mit Beckmanns Selbstbildnis auf einen Schlag rund die Hälfte bisheriger Jahresumsätze. Und für den deutschen Kunstauktionsmarkt insgesamt kann das Jahr 2022 den Aufstieg in die erweiterte Champions League des Kunstmarktes markieren. Bisher beherrschen die beiden Konzerne Christie’s und Sotheby’s duopolartig das Hochpreisgeschehen in New York, London und Hongkong. Sie setzen mit Auktionen im Wochentakt jedes Jahr Milliarden um und schlagen bei ihren „Evening Sales“ gewohnheitsmäßig Millionenlose zu; in zwei Wochen etwa stehen bei Christis’s und Sotheby’s in New York zehn Dutzend Bonnards und Derains, Magrittes und Monets, Giacomettis und Picassos, Schieles und Gaugins im Schaufenster – neben weiteren Millionenlosen zeitgenössischer Künstler.

Und damit soll es also bald vorbei sein? Jedenfalls sind wir „Zeugen eines fundamentalen Wandels des internationalen Kunstmarkts“, meint Robert Ketterer, der Inhaber des gleichnamigen Marktführers in Deutschland: Die Digitalisierung ebne die Hierarchien der Branche nachhaltig ein und helfe den deutschen Kunst-Mittelständlern, bisher bestehende Grenzen einzureißen; lokale Märkte wandelten sich zu Orten von internationaler Strahlkraft, „Sammler aus der ganzen Welt bieten heute online in München und Berlin“.

Ketterer und Grisebach profitieren damit von einer Entwicklung, die allgemeinen Welthandelstrends zuwiderläuft: Während der Austausch von Computerchips und Seltenen Erden, Pipelinegas und Medizingütern wieder buchstäblich an (politische) Grenzen stößt, „verflacht“ die Digitalisierung den Kunstmarkt zusehends. Was auch immer wer zu bieten hat, ist jederzeit für jeden von überall her zu besichtigen und zu kaufen – vorausgesetzt, man bringt das nötige Kleingeld für die knappen Güter mit.

Robert Ketterer zufolge hat die Coronapandemie „diese Entwicklung stark beschleunigt“. Die Münchner setzten im Jahr 2019 rund 60 Millionen Euro um, im vergangenen Jahr 80 Millionen. Sie verkaufen inzwischen jährlich rund ein Dutzend Lose rund um die Million und streben in diesem Jahr abermals einen Rekordumsatz an, um sich den dritten Platz auf dem Kontinent nach Sotheby’s und Christie’s zu sichern: „Rund 50 Prozent unserer Kunden und etwa 70 Prozent aller Gebote, die beim ‚Evening Sale‘ abgegeben werden, kommen mittlerweile aus dem Ausland“, sagt Ketterer: „Tendenz steigend.“

Die flache, digitalisierte Kunstwelt ist aber längst nicht alles, was Ketterer und Grisebach in die Hände spielt. Vielleicht noch wichtiger ist, dass beide Häuser ihre Trümpfe als Mittelständler gekonnt ausspielen, sich als exklusive Boutiquen positionieren, um den Großkaufhäusern Marktanteile abzujagen: Man punktet mit exklusiver Beratung und einem maßgeschneiderten Marketing, stellt sein Angebot ins Rampenlicht aufwändiger Hochglanzkataloge und dekoriert die Toplose mit Essays und Dossiers, Randgeschichten und Zeitdokumenten – auch die Kunstbranche (und sie speziell) handelt eben nicht nur mit ihren materiellen Hervorbringungen, mit Leinwänden und Farbaufträgen, sondern mit Erlebnissen und Lebensgefühlen, Geschichten und Selbstbereicherungsabsichten. Und offenbar wollen einige wichtige Einlieferer ihre Waren nicht mehr auf den Wühltischen bei den Tiffanys und Harrods der Branche (also Christie’s und Sotheby’s) verkaufen, sondern als herausgestelltes Prunkstück in einem deutschen Kunst-Feinkost-Geschäft.

Tatsächlich ist es inzwischen so, dass man als Sammler bei Christie’s und Sotheby’s leicht den Überblick verliert: Es gibt keine Kataloge mehr, statt dessen eine schier endlose Flut von Auktionen (übrigens auch für Uhren, Wein, Asiatika und Handtaschen etc.), in der man als Einlieferer unbesehen unterzugehen droht und als potenzieller Käufer permanent etwas verpasst: Die Digitalisierung des Kunsthandels macht sich hier als schiere Ubiquität, Entauratisierung (und damit auch der ideellen Entwertung) der Kunst bemerkbar. Sie drängt sich dem neutralen Beobachter als Angebotsüberhang vermeintlicher Knappheiten auf – als digitale Shoppingmeile für seelenlos kunstinteressierte One-Click-Milliardäre. Demgegenüber halten Ketterer und Grisebach (neben regelmäßigen Online-Auktionen für Werke bis 10.000 Euro) an zwei sorgfältig kuratierten Auktionen jährlich fest. Ketterer verschickt dazu inzwischen rund 10.000 mehrsprachige Printkataloge weltweit. Und speziell Grisebach veredelt auch Lose im fünfstelligen Bereich mit kleinen Aufsätzen seiner Kunsthistoriker zu Preziosen.

Aber das ist nicht alles, was für die Aufwertung des kontinentalen Marktes gegenüber New York und London und die großen Aufstiegschancen der beiden deutschen High-Potentials spricht: „Der Kipp-Punkt war der Brexit“, sagt Nicola Gräfin Keglevich, Senior Directorin bei Ketterer. London verliert seither nicht bei seinen Kunden aus den USA und dem Nahen Osten, büßt aber sehr an Nachfrage aus Europa ein: Sieben Prozent Einfuhrumsatzsteuer (auf Hammerpreis und Aufgeld), stark gestiegene Transportkosten, Zollformalitäten – das waren Sammler in Paris, Zürich und München bisher nicht gewöhnt. Und dann ist da die aktuelle Euro-Schwäche, die die Nachfrage nach Kunst aus dem Euro-Raum treibt: Grisebach zeigt Max Beckmanns Selbstbildnis nicht umsonst ab nächsten Samstag in New York (bevor es ab 23. November in Berlin ausgestellt sein wird) – ein Dollar-Sammler muss derzeit in Deutschland rund 15 Prozent weniger Geld ausgeben als im Vorjahr, sparte beim Kauf des 20-Millionen-Beckmann also locker drei Millionen.

Avanciert Deutschland mit Berlin und München nun zu einem Zentrum des internationalen Auktionsmarktes? Micaela Kapitzky, Geschäftsführerin bei Grisebach, spricht vorerst von einer „kleinen Verschiebung“, aber ja: Viele Kunden vertrauten Topwerke inzwischen auch Häusern in Deutschland an, im wahrsten Sinne des Wortes – denn dass man bei Grisebach das Privileg habe, in Beckmanns Selbstbildnis eine „Weltsensation“ aus einer Schweizer Privatsammlung zu verkaufen, sei vor allem das Ergebnis langjähriger, sorgfältig gepflegter Kundenbeziehungen: Grisebach-Mitgründer Bernd Schultz berät den Einlieferer seit vielen Jahren. Auch bei Ketterer ist man sicher, dass die Familiarität der Mittelständler eine bedeutsame Rolle spielt: „Es ist die Verbindung von persönlichem Vertrauen und globaler Sichtbarkeit, die unseren wachsenden Erfolg begründet“, sagt Senior Director Sebastian Neusser.

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Ein Selbstläufer ist der Erfolg freilich nicht. Christie’s und Sotheby’s haben vergangene Woche rund um die erste Ausgabe der Messe „Paris+ par art Basel“ etliche Millionenlose in die französische Hauptstadt getragen, um sich dort zu positionieren – und Sotheby’s kontert die beiden Parvenüs aus Berlin und München auch am Heimatmarkt, mit einer Online-Auktion im November am Standort Köln. Und? Ketterer und Grisebach stellen sich der Herausforderung – und antworten mit einer konsequenten Internationalisierung ihres Angebots, speziell im Bereich der Zeitgenössischen Kunst: Das Angebot eines Top-Werkes von David Wojnarowicz („He Kept Following Me“, Schätzpreis 350.000 bis 450.000 Euro), in New York gefeiert und etabliert als Ikone der Subkultur neben Basquiat, Haring, Kiki Smith – ist da jedenfalls fast schon als Statement zu verstehen, dass München und Berlin im internationalen Kunstmarkt künftig kräftig mitmischen wollen, dass der Markt lebendiger denn je ist - und dass es der Kunst ganz blendend geht in der Krise.

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