Tauchsieder
Quelle: imago images

Die verachtete Jugend

Die Bundesregierung verhöhnt Schülerinnen und Schüler mit einem „Aufholprogramm“ für ihre Entbehrungen in der Coronapandemie – und behandelt Kinder wie faule Kredite, die den Standort gefährden. Ein Armutszeugnis.

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Vor gut einem halben Jahr, als die zweite Welle der Coronapandemie sich gerade aufbaute und viele Länderchefs den Grundstein ihrer gesundheitspolitischen Versagenskarrieren legten, feierte Ida ihren leicht verlängerten Andy-Warhol-Moment: 15 hours of (inglorious) fame. Die junge Frau offenbarte in einem Beitrag für das „heute-journal“ des ZDF ihre Verzweiflung darüber, „seit März (2020) nicht mehr feiern“ zu können: „Das ist schon traurig“, sagte Ida, „ich brauch das nämlich eigentlich, ich bin darauf angewiesen. Und darauf zu verzichten, geht mir schon echt ab.“

Natürlich avancierte Ida damit augenblicklich zu einem medialen Momentereignis unter negativen Vorzeichen. Auf der Empörungsplattform Twitter baute sich binnen weniger Minuten ein Sturm aus Scheiße auf: Die junge Frau sei unsolidarisch, kreise bloß um sich selbst – eine vergnügungssüchtige Egomanin, deren Blick nicht über den eigenen Tellerrand hinausreicht, das krasse Musterbeispiel einer wohlstandsverwöhnten Göre, die ihre marginalen „first world problems“ hypertrophiert und ihr kindisches Recht auf Selbstgenuss auch gegen den breiten Konsens eines erwachsenen Nationalkollektivs, auf Kosten der schutzbedürftigen Restgesellschaft durchsetzen will.

Das war schon damals mindestens dreifach unverschämt. Denn erstens bekräftigte Ida gerade mit dem Hinweis auf das Vermisste ihre Verzichtsbereitschaft. Zweitens ist die Vorstellung albern, junge Menschen müssten sich in Demut üben, nur weil sie das Glück haben, in einer Wohlstands-, Überfluss- und Multioptionsgesellschaft aufzuwachsen. Drittens schließlich haben auch die Probleme junger Menschen in den globalen Komfortzonen des postindustriellen Westens ein Recht darauf, als Probleme empfunden zu werden.

Zumal die Regierenden in der vergangenen Woche mal wieder den Beweis dafür erbracht haben, dass sie die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie rhetorisch primär adressieren – und praktisch hintanstellen. Das Bundeskanzleramt und die zuständigen Ministerien, die Länderchefinnen und Kultusminister sollten sich wirklich schämen: Kinder und Jugendliche, man weiß es seit Monaten und kümmert sich nicht, werden die Letzten sein, die gegen das Coronavirus geimpft werden. Familien werden daher, anders als Singles und erwachsene Paare, im Sommer nicht unbeschwert an die Ostsee fahren können.

Die Jugendlichen werden sich auch in den nächsten Monaten nicht treffen können oder um den ersten Kuss ihres Lebens gebracht – es sei denn, sie legen aktuelle Tests vor. Die Eltern schulpflichtiger Kinder werden in diesen Wochen auch nicht bevorzugt geimpft (stattdessen etwa Journalisten im Homeoffice), obwohl die Inzidenzwerte unter Kindern und Jugendlichen seit Wochen besonders hoch sind. Und natürlich werden auch im September noch nicht alle deutschen Klassenräume mit Luftfiltern ausgestattet sein. Ist doch nicht so wichtig, Lüften geht doch auch. Präsenzunterricht im Normalmodus? Mal sehen. Ein viertes Online-Semester für Studierende? Gibt Schlimmeres. Hauptsache, die Alten dürfen endlich mal wieder einen Aperol auf Mallorca schlürfen. Die hatten’s schließlich auch schwer.



Wer eine Vorstellung davon bekommen möchte, welchen „Wert“ die Regierenden Kinder und Jugendlichen beimessen, blättere nur mal rein in das zwei Milliarden schwere „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“, das vergangene Woche vorgestellt wurde. Schon der Name deutet an, worum es geht: um den Abbau „pandemiebedingter Lernrückstände“, um das Aufholen, das Anschlussfinden, das Wettmachen eines Rückstands, also wirtschaftlich gesprochen: um die Rekapitalisierung eines schwächelnden Staatsinvestments.

Offenbar können sich Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) Heranwachsende im 15. Monat der Coronapandemie nurmehr als faule Kredite und defizitäre Assets am Standort Deutschland vorstellen – als Leerbehälter, die seit März 2020 nicht ganz so intensiv mit Einmaleins und Integralen druckbetankt werden konnten wie sonst üblich, um sie als Humankapital möglichst zeitnah dem Arbeitsmarkt zuführen zu können. Jeder weiß: Das lag nicht an den Kindern und Jugendlichen, sondern an der mangelnden Digitalkompetenz und -infrastruktur vieler Bildungspolitiker, Schulen und Lehrer und am ausgeprägten Willen der Kultusministerinnen und Kultusminister, die „Jahrhundertaufgabe“ unbearbeitet zu lassen. Aber hey, das bedeutet ja nicht, dass man die Kinder und Jugendlichen erst 14 Monate im Dauerregen eines On-Off-Unterrichts stehen lassen kann, um ihnen anschließend in „Sommercamps“ und „Lernwerkstätten“ auch noch die Ferien zu verhageln. Mit Verlaub: Dieser Umgang des Landes mit seinen Kindern ist eine Schande.

Bildung: Was wirklich nötig wäre

Zwei Milliarden also für „Förderangebote“, speziell für besonders bedürftige Kinder, also für „Sprach-Kitas“, „Frühe Hilfen“ und „Familienferienzeiten“, für „Kultur macht stark“ und „Mehrgenerationenhäuser“, für „Kinderfreizeitboni“ und „Mentorenprogramme“ – zwei Milliarden, die den meisten Schülerinnen und Schüler nichts und wieder nichts bringen, weil sie aus normalverdienenden Elternhäusern stammen. Ihnen wäre mit weniger Unterrichtsausfall und kleineren Klassen, mit mehr Lehrern und einer verlängerten Schulzeit, mit modernen Gebäuden und sauberen Toiletten, mit einer Kontextualisierung des „Stoffes“ und einer Vertiefung des „Abiturwissens“ geholfen, kurz: mit Schulen, die auch dank einer deutlich besseren personellen Ausstattung den Ehrgeiz entwickeln dürften, die massiven Geländegewinne kommerzieller Nachhilfeanbieter zu begrenzen.

Aber keine Sorge, darüber werden wir uns auch nach der Pandemie nicht besorgen: Rückkehr zur Normalität halt. Denn diese Normalität will verwaltet werden, etwa in Modellrechnungen der Kultusministerkonferenz, in denen regelmäßig den „Lehrereinstellungsbedarf“ ermittelt wird – ein weiteres Dokument aus der Hölle des deutschen Bildungswesens und ein rhetorisches Fest für Freunde des Bürokratie- und Nominalstils: „Für die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung“, heißt es da, „ist die Deckung des Lehrereinstellungsbedarfs von grundsätzlicher Bedeutung.“

Sicherstellung + Versorgung + Deckung = Bedeutung. So steht es tatsächlich da, man will es kaum glauben. Lehrer als Sollerfüllungsgehilfen zur Aufrechterhaltung von Mindestzielen. Und Kinder als Produktionsfaktor in einer Mangelverwaltungswirtschaft – leider mit einer Null vor dem Komma.

Und so spielt sich das Drama der deutschen Bildungspolitik inzwischen auf zwei Ebenen ab. Auf der Ebene einer Politik, die nicht mal den Ansprüchen ihrer eigenen, dürren ökonomischen Logik genügt - und Deutschlands Zukunft chronisch unterfinanziert. Und auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler, die sich den Imperativen der Wirtschaft unterwerfen (müssen), die schon mit 13, 14 ein objektives Verhältnis zu sich einnehmen, sich als optimierbares Projekt begreifen, die ständig davon sprechen, ihre „Leistung“ erbringen und den „Stoff“ lernen zu wollen, um sich ausreichend „Chancen“ zu eröffnen – im Hinblick auf ihr (späteres) Berufsleben als Erwachsener.

Gewiss, es wäre übertrieben zu sagen, die Bildungspolitiker stöhlen den Kindern und Jugendlichen ihre Kindheit. Aber es ist gewiss nicht übertrieben zu sagen, dass sie mit ihrem sogenannten „Aufholprogramm“ den Performance-Druck auf Kinder und Jugendliche einmal mehr erhöhen: Sie verschulden „Lernrückstände“ und diagnostizieren „Defizite“ - und jubeln sie Kindern und Jugendlichen als Anforderung und Effizienzsteigerung unter: Bitte legt einen Gang zu bei der Aneignung von Funktionswissen – zum Wohle des Wirtschaftsstandortes! Wie nennt man so was? Sozialisierung organisierter Verantwortungslosigkeit? Zwangsprivatisierung politischer Unterlassungssünden?

Nötig wäre, natürlich, etwas ganz anderes. Nötig wäre: Übernachtungen bei Freunden, Sporttraining, Schwimmbad, Pizzeria, Klassenfahrten, Museumsbesuche, Praktika, Familienfeste. Nötig wäre: ein Plus von 50.000 Lehrern. Nötig wäre: eine flexible Schulzeit, die sich für Abiturienten etwa bis zum 20. Lebensjahr erstreckte. Sie gäbe Kindern und Jugendlichen den Freiraum, sich auch mal zwei Jahre nur für ihre erste Freundin zu interessieren oder die Verbesserung ihrer Fortnite-Fertigkeiten. Sie gäbe ihnen aber auch die Gelegenheit, ihr mathematisches und sprachliches Kern- und Alltagswissen in möglichst individuellem Tempo zu vertiefen, die Welt in ihren vielen Zahlen und Statistiken, Deutungen und Varianten lesen zu lernen, sich Medien- und Demokratiekompetenz zu erwerben, sich auch für sogenannte „Nebenfächer“ wie Geschichte und Geografie, auch Wirtschaft und Informatik, breit zu interessieren.

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Und was spricht gegen eine anschließende Studienzeit mit der Möglichkeit zum fächerübergreifenden Schlendern und Verweilen, vielleicht bis zum 26., 27. Lebensjahr – mit viel Zeit und Raum für Nebenwege, für interdisziplinäres Lernen und Lesen, fürs Reisen und Reifen, fürs Begegnen, Lieben – und Leben? Auch die Demografie spräche dafür: Wer heute erst mit 30 ins Berufsleben einsteigt, hat doch noch alle Chancen, 45 Jahre lang arbeiten zu dürfen. Reicht das etwa nicht?

Die Pandemie wäre eine Chance gewesen, Bildung anders zu denken: größer und großzügiger vor allem, aber auch weniger funktionalistisch, individualisiert, noten- und zielorientiert. Wäre. Chance vertan. Zurück zur Normalität. Weiter nach Plan. Ohne Filter. Es ist: ein Armutszeugnis.

Mehr zum Thema: Abgetauchte Lehrer, kaum digitaler Unterricht: Auch im zweiten Lockdown lernen Kinder weniger. Defizite gibt es nicht nur beim verpassten Stoff. Doch die Ferien zu verkürzen, ist für die Länder bisher keine Option.

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