Tauchsieder
Demonstration am 1. Mai in Berlin Quelle: imago images

Kritik der Kapitalismuskritik 

Linke und Grüne wollen unser Wirtschaftssystem „radikal umbauen“ – mit Parolen statt Argumenten. Das ist zu wenig. Und zu billig. Eine Abrechnung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Die Deutschen sind ein merkwürdiges Volk. Ihre Akzeptanz für Politiker, die Probleme benennen, ist groß, aber wenn dieselben Politiker Lösungen anbieten, dann begegnen sie ihnen – den Politikern so gut wie den Lösungen - nörgelnd bis ablehnend. Sie wissen, dass der Veränderungsdruck hoch ist angesichts der Digitalisierung der Wirtschaft, der Konzentration der Vermögen, des Klimawandels oder auch der „Herausforderung China“, weichen aber Rainer Maria Rilkes Imperativ („Du musst Dein Leben ändern“) aus, so lange es geht. Und natürlich wünschen sich die Deutschen von der Politik klare, schnelle Entscheidungen, damit es vorwärts geht in diesem Land - aber wenn dieselben Politiker versuchen, verbindliche Frauenquoten durchzusetzen, Ausstiegstermine, Mindestlöhne, Klimaziele, Fahrverbote, Bildungsstandards, Stromleitungen oder auch nur Masernimpfungen, schimpfen dieselben Deutschen auf gängelnde Verbotspolitiker (vor allem der Grünen) und wünschen bitteschön vorher mitgenommen zu werden. 

Die Folgen sind nicht immer schön. Zumal dann nicht, wenn Politiker die Signale der Bevölkerung absichtsvoll missverstehen und widerspruchsvolle Rückkopplungseffekte zu ihren Gunsten auslegen. Kevin Kühnert (SPD) und Sahra Wagenknecht (Linke), Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Grüne) zum Beispiel, so unterschiedlich (erfolgreich) sie sind: Viele Deutsche stimmen ihnen in der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zu, zumal diese Analyse erstens teilwahr, also unwidersprechlich, zweitens höchst allgemein formuliert, also unmittelbar anschlussfähig ist. Die „Ökonomisierung der Lebensverhältnisse“, der „Kapitalismus in der Krise“, das „Wohnen als Grundrecht“ oder der „Klimawandel als Menschheitsfrage schlechthin“ - das alles sind Schlagworte, die nach dem Muster von Amazons „One-Click-Prinzip“ und des Facebook-„Like“ funktionieren: Parolen, deren Botschaft vor allem durch die Leichtigkeit ihrer Vermittlung überzeugt - politische Neurotransmitter, die persönliche Bewegtheit, ja: Erregung auf die Gesellschaft übertragen.  

Das Problem an dieser kurzschlüssigen Synapsenverschaltung: Sie verspricht augenblicklich emopolitische Erträge - auf Kosten komplexer Lösungsansätze. Tatsächlich müssten gerade die Linken, spätestens seit den multiplen Spekulations-, Banken- und Staatsschuldenkrisen in diesem Jahrhundert, seit der Entkopplung von Risiko und Haftung an den Finanzmärkten und der systemischen Sozialisierung privater Verluste, seit „Occupy“, „Empört Euch“ und „Der kommende Aufstand“ in ihrer Kritik am Wirtschaftssystem längst viel weiter, viel konkreter sein - und einen schärferen Sinn entwickelt haben für die Ur-Ursachen massiver Ungleichgewichte in der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur vieler westlicher Länder: die künstliche Prolongierung der Wirtschaftswunderjahre durch die Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems in den Siebzigerjahren und die kreditfinanzierte Aufrechterhaltung der Wachstumsillusion; die technologisch zugerüstete Finanzialisierung der Wirtschaft an den Börsen; die Niedrigzinspolitik der Notenbanken. So viel Geld können Linke gar nicht von oben nach unten umverteilen, wie die Steuer- und Geldpolitik in den vergangenen Jahrzehnten von unten nach oben verteilt hat, zuletzt auf den Immobilienmärkten.

Aber warum Analyse, wenn sich mit raunendem Verarmungs-, Entfremdungs- und Enteignungsfuror viel größere multimediale Multiplikationseffekte erzielen lassen? Wenn man darauf zählen kann, dass die Sensibilität der Bevölkerung für die Geringfügigkeit ihrer verbliebenen (Luxus-)probleme umso größer ist, weil sie ihre existenziellen Probleme vorerst gelöst hat? Offenbar braucht man die Unbestimmtheit seines Missfallens an den kapitalistischen Verhältnissen nicht mehr als intellektuellen Mangel zu begreifen, seit es genügt, ihm talkshowcircensisch nachzugeben, ja: Man kann sich seiner Entrüstung förmlich schmücken, seit sie authentisch genug ist, um ein politisches Argument zu simulieren.  

Juso-Chef Kevin Kühnert hat vergangene Woche die richtigen Fragen gestellt - und die meisten Deutschen haben, wie gesagt, wohl auch kein Problem damit. Wohl aber damit, dass Kühnert die Bestie Kapitalismus zähmen will, indem er etwa Menschen verbietet, anderen Menschen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Denn eine wortreiche Woche später stellt sich die Situation wie folgt dar: Nicht die Deutschen sind merkwürdig, die Kühnerts Unsinn ablehnen. Sondern Sozialdemokraten, die die Unvollkommenheit der modernen Wirtschaftsform zu recht kritisieren, dabei aber zugleich ein Höchstmaß an Kompetenzarmut offenbaren. 

Gewiss, man kann, wie auch Annalena Baerbock, fordern, „unser Wirtschaftsystem radikal“ umzubauen - und wenn damit gemeint ist, das segensreichen Wirken von Geld als Kapital auch auf Bereiche auszudehnen, die seinem Zugriff bisher entzogen waren (Bepreisung von Klima, Naturverbrauch und Menschenrechten) - unbedingt, sehr gerne. Aber warum sagen Kühnert und Baerbock es dann nicht so? Die Systemfrage stellt sich, aber ja doch. Aber sie stellt sich vollkommen anders, als sich Kühnert und Baerbock das vorstellen. Nicht grundsätzlich, sondern konkret. Warum setzen sich die beiden nicht für ein Verbot anonymer Hauskäufe, synthetischer ETF’s und derivativer Finanzprodukte ein - warum nicht auch für ein Ende eines heil- und ziellos in der Mittelschicht umverteilenden Sozialstaats, der die Zukunft der Jungen so effizient verschleudert wie die Niedrigzinspolitik?  

Und warum tut die SPD im derzeitigen Europawahlkampf so, als sei der Wohlstand des Kontinents gleichsam aus dem Nichts zu schöpfen? Als verdanke sich der Luxus einer Diskussion über ein „sozialeres Europa“ nicht dem wirtschaftlichen Aufstieg und Erfolg der meisten EU-Länder in den vergangenen zwanzig Jahren, ja: dem Verbreitungs- und Ausdehnungswillen des mobilisierten Kapitals an sich? 

Zur Erinnerung: Der Kapitalismus ist ein lernfähiges System mit pazifistischen Talenten. Er hat Ausgebeutete zu Konsumenten emanzipiert. Und Besitzlose zu Eigentümern. Keine geringe Leistung. Der Kapitalismus erobert eben nicht nur die Welt und richtet die Menschen zu Werkzeugen seiner Wachstumslogik ab, sondern er richtet diese Welt auch zunehmend reich ein.

Geldgier kann nie übler sein als Geldmangel

Anders als die meisten seiner Rezensenten meinen, gereicht ihm seine moralische Neutralität dabei keineswegs zum Nachteil. War nicht etwa die „Moral“ in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das, was die regierende Macht sich unter ihr vorstellte? Spricht nicht etwa viel dafür, dass ausgerechnet das un-moralische Geld die feudale Machtmoral im 15./16. Jahrhundert sehr erfolgreich zersetzt hat – lange bevor sie in politischen Pamphleten herausgefordert wurde? Ohne die wirtschaftlichen Interessen der Kaufleute, ohne den Ehrgeiz der vielen, sich ein besseres Leben buchstäblich zu verdienen, ist der Siegeszug von Demokratie und vorstaatlichen Menschenrechten undenkbar – wer diese Provokation nicht aushält, sollte von der „Vorherrschaft des Geldes“ schweigen. Zynisch ist nicht der Kapitalismus. Zynisch sind die Wohlstandsverwöhnten in den Industrieländern, die behaupten, die Geldgier sei die Wurzel aller Übel, weil sie die Menschen zu Sklaven des Sachzwangs herabwürdige. Das Übel der Geldgier kann niemals größer sein kann als das Übel des Geldmangels.

Umgekehrt gilt: An der Dysfunktionalität einer unregulierten, des Produktionsfaktors Natur enthobenen Marktwirtschaft glaubt nach der Oligarchisierung des Geldes an den Finanzmärkten, der Machtkonzentration in den Händen von Digitalkonzernen, des Raubbaus an der Umwelt und angesichts einer wachsenden Ungleichheit der Vermögen niemand mehr. Der Eigennutz eines Investmentbankers mehrt nicht das Gemeinwohl. Das Wettbewerbsprinzip des Kapitalismus diffundiert nicht die Staatsmacht in Peking oder die Konzernmacht im Silicon Valley. Und die Messe der heiligen Konkurrenz und ewig gültigen trickle-down-Effekte liest man sich nicht mal mehr in den Glaubenskongregationen der Hayek-Gesellschaft und Erhard-Stiftung.

Keine Frage: In den vergangenen drei, vier Jahrzehnten ist die Ordnungspolitik vor die Hunde gegangen – und zwar nicht, weil ihre erklärten Feinde sich an ihr versündigt hätten, sondern ihre falschen Freunde, die Business-Class-Liberalen. Sie haben die funktionale Trennung zwischen Staat und Markt paradoxerweise aufgehoben und beide Sphären unheilvoll miteinander verklammert. Die Ur-Ursache dafür ist die Wachstumsdelle der Industrienationen in den Sechzigerjahren und die Kreditexplosion nach Aufgabe des Bretton-Woods-Systems 1971/1973: Seither verpflichten sich Finanzmärkte, Notenbanken und Staaten wechselseitig, ein Wachstum aufrechtzuerhalten, das mit realwirtschaftlichen Mitteln nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.

Die Notenbanken erfüllen ihre Aufgabe, indem sie unendlich viel Geld schöpfen. Die Finanzmärkte, indem sie das Kapital nicht mehr um Güter kreisen lassen, sondern nur noch um sich selbst. Und die Staaten, indem sie Notenbanken und Finanzmärkten die Lizenz zur fortwährenden Geldproduktion erteilen, um ihren sozialpolitisch verwöhnten Bevölkerungen die Folgen der Wachstumskrise zu ersparen. Seither ist der Preis des Geldes aus den Fugen, der Wettbewerb verzerrt, der Marktmechanismus gestört. Seither steigt der Wert von börsennotierten Unternehmen nur noch deswegen, weil Politik und Notenbanken die Zinsen manipulieren, längst überfällige Markt-Korrekturen verhindern und die Krise durch fortgesetzte Eingriffe zugleich vertagen und verschärfen.

Deshalb ginge es heute einerseits darum, den Staat als recht- und rahmensetzende Gewalt zu rehabilitieren: durch die Revision seines Selbstverständnisses als Deregulierungsagentur zur Förderung einer Finanzoligarchie. Und es ginge andererseits darum, den Finanzmarkt zu rehabilitieren: durch die Revision seines Daseinszwecks als Kreditbroker für klamme Staaten.

Nur geschützte freie Märkte, die Risiken bearbeiten, statt sie zerstückelt und verbrieft hinter einem Vorhang der Verantwortungslosigkeit zum Verschwinden zu bringen, sind verlässliche Lieferanten von Preisinformationen. Und nur Staaten, die dafür sorgen, dass Märkte unabhängig von geldpolitischen Einflüssen ihre Aufgabe erfüllen können, schlecht wirtschaftende Unternehmen ihrer überfälligen Insolvenz auszuliefern, erhalten sich die Freiheit, die Finanzmärkte vor sich selbst zu schützen.

Der Kapitalismus benötigt wenig moralische Anreicherung, wohl aber viel rechtliche und institutionelle Absicherung. Wall Street und Bankfurt sind keine Orte der „Tyrannei“, in denen das Gesetz der Gier gilt; sie benötigen Vorschriften, die Geldinstituten ein Fünftel Eigenkapital für ihre Kreditgeschäfte abverlangen. Das Geld, das sich ein Bauunternehmer bei der Volksbank leiht, bedarf keiner ethischen Fundierung; es reicht, dass er Maurern eine Beschäftigung bietet und neue Schulen entstehen. Unser Wirtschaftssystem ist nicht „an der Wurzel ungerecht“, sondern eine glänzend geölte Zivilisationsmaschine, die Milliarden Menschen verheißt, ihrer Armut zu entkommen.

Religiöser Fanatismus (Afghanistan, Iran), Korruption (in vielen Ländern Afrikas) politische Zentralsteuerung (Peking, Moskau, Singapur...) und Eigentumskonzentration (westliche Staats-Finanzmarkt-Komplexe) sind ungerecht – nicht „die Wirtschaft“, von der schon Max Weber meinte, sie sei die „friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt“. Tatsächlich benötigt der Kapitalismus nur wenige ordnungspolitische Prinzipien – Risiko und Haftung gehören zusammen, Kredite haben ihren Preis, Schulden müssen zurückgezahlt werden, Kartelle gehören zerschlagen –, um weitestgehend funktionstüchtig zu sein.

Sicher, der Kapitalismus hat keine Seele und kennt keine Sozialpflichtigkeit. Geld will in ihm angelegt sein und investiert werden, weil es nie das ist, was es ist, sondern immer sein mögliches Mehr: Produkt, Potenz und Projekt seiner selbst. Eben deshalb sollten wir gar nicht erst den Versuch unternehmen, das Vermehrungsinteresse des Kapitals zu stören. Stattdessen käme es darauf an, dem Kapital einerseits seine Grenzen aufzuzeigen und ihm andererseits neue Zugriffsmöglichkeiten zu eröffnen: jenseits der rettungslos bankrotten Staatsfinanzmärkte.

Um es mit Karl Marx zu sagen: Nachdem wir geglaubt haben, wir könnten die Ware aus seiner ursprünglichen Kapitalismusgleichung (G-W-G’) streichen, indem wir aus Geld einfach mehr Geld machen (G-G’), wird unternehmerische Freiheit in Zukunft bedeuten, den Bereich der „Waren“ um Allmendegüter zu vergrößern, um die das Geld kreisen kann: G-W’-G’. Denn wenn Wirtschaften heißt, sich mit der Herstellung und Distribution von Gütern unter den Bedingungen der Knappheit zu beschäftigten, dann konvergieren Ökonomie und Ökologie, sobald die Grundbedingungen des Wirtschaftens selbst knapp werden: die Bodenschätze, das Öl, das saubere Wasser, die frische Luft. Dann reift rund um den Globus die Einsicht, die Erde selbst sei der „Menschheit“ Eigentum – und nicht nur der Menschheit hier und heute, sondern auch der Menschheit, die die Erde von der Gegenwartsgeneration erben wird.

Dadurch gewännen nicht zuletzt die besitzindividualistisch trivialisierten Eigentums- und Freiheitsbegriffe der Business-Class-Liberalen eine neue Qualität: Das dem Eigentum innewohnende Prinzip der Eingrenzung und Aneignung würde durch das Prinzip der Sorge und Verantwortung erweitert. Und Freiheit nicht mehr als Lizenz zum Sich-gehen-Lassen verstanden, sondern mit dem kanadischen Philosophen Charles Taylor als „Praxis steuernder Kontrolle“: als „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“. 

Du musst Dein Leben ändern? Aber sicher. Also los.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%