Neu ist der Gedanke einer Allianz mit Kairo nicht: Merkel sprach davon bereits öffentlich, Noch-EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ebenfalls. Neu aber ist die Konsequenz, mit der sie gedacht wird. Schließlich wäre dem Vernehmen nach auch denkbar, dass ein abgelehnter Flüchtling aus einem EU-Land nach Ägypten geschickt wird, ohne jemals irgendeine Verbindung mit dem Land unterhalten zu haben. Letzte Ausfahrt Kairo.
Rechtlich sei so ein Vorgehen möglich, heißt es. Und für Menschen, die nicht Schutz vor Terror und Verfolgung suchten, sondern nur wirtschaftliches Glück, sei ein Aufenthalt in Ägypten immer noch sicherer als etwa in Syrien. Inspiration für den Vorschlag lieferten die Israelis, die in ähnlicher Form prüften, Flüchtlinge wenig zimperlich zu verfrachten.
Auffangzentren, die etwa aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufnehmen können, wirken abschreckend. Sie können die Lust darauf mindern, die gefährliche Reise durch Europa anzutreten, wenn kaum eine Chance auf Duldung besteht. Ägypten, das vital für die Region ist, beinahe „too big to fail“, würde zudem politisch enger eingebunden.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Zumal Ägypten Geld braucht, also zugänglich ist für Argumente. Es soll vom Internationalen Währungsfonds im Gegenzug für Reformen zwar Milliarden erhalten. Aber das sind nur Kredite. EU-Milliarden – wie sie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan für seine Flüchtlingskooperation erhält – wären natürlich hoch willkommen.
Doch wäre der Deal mit Kairo brisanter, weil es eben nicht nur um Seenotflüchtlinge ginge, sondern auch um abgewiesene Asylbewerber aus anderen Ländern. Zudem existiert in dem Land bislang nicht einmal ein in der Verfassung verankertes Anerkennungsverfahren. Also bliebe Flüchtlingen wohl nur eine Registrierung beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, mit einem sehr unklaren Status für die Flüchtlinge und durchaus zum Graus von vielen Menschenrechtsorganisationen.
Pakt mit dem Teufel?
Und: Der heikle Partner Erdoğan ist immerhin demokratisch gewählt. Ägyptens Präsident Sisi ist es nicht. „Es kann nicht im europäischen Interesse sein, dass unsere Hilfsgelder im ägyptischen Militärapparat versickern“, sagt etwa die grüne Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Diese Gemengelage erklärt Merkels Zögern. Ihr ist klar, was sie zu hören bekommt, wenn sie mit einem Despoten aus Ägypten offen gemeinsame Sache macht. Aber das Türkei-Abkommen wurde ähnlich kritisiert. Schließlich kam es doch.
Merkel weiß, dass sie kaum eine Wahl hat. Sogar die Harmonie von Essen bekam bereits während des Parteitags Risse. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, machte für die mutmaßliche Tötung einer jungen Freiburger Frau durch einen Flüchtling Merkels Willkommenskultur verantwortlich. Der „Bild“-Zeitung sagte er: „Dieses und viele andere Opfer würde es nicht geben, wäre unser Land auf die Gefahren vorbereitet gewesen, die mit massenhafter Zuwanderung immer verbunden sind.“
Armin Schuster, Obmann der Union im Bundestags-Innenausschuss, koordinierte auf dem Essener Parteitag den Widerstand der Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik. Schuster, der früher selbst bei der Bundespolizei arbeitete, verlangte die schnelle Einrichtung von Transitzonen an der Grenze: „Wir müssen dort die Menschen herausfiltern, die offensichtlich kein Bleiberecht erhalten. Solche Asylschnellverfahren laufen schon an allen deutschen Flughäfen.“ So ließen sich jene bis zu 40 Prozent der Asylbewerber, die nach einem regulären Verfahren abgewiesen werden, schneller finden und besser außer Landes bringen.
Im Hintergrund wartet die AfD
Schuster sagt: „Wir können hier nicht großzügig sein, denn dann ist die Botschaft an den Rest der Welt nicht beherrschbar.“
Kanzlerin Merkel hört diese Worte sehr wohl. Und sie weiß auch genau, was ihr Vorgänger, der erfahrene Wahlkämpfer Schröder ausspricht und aktuell seinen Genossen ins Stammbuch schreibt: Nicht verzagen sollten sie, seine Sozialdemokraten, denn die schwächelnde Union müsse im Wahlkampf vor allem die AfD fürchten.