Zeitenwende Wir schaffen das? So nicht.

Bundeskanzler Scholz beobachtet eine Fliege während des Besuchs bei den Stadtwerken in Potsdam. Quelle: REUTERS

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um unmissverständlich auszusprechen, was Zeitenwende politisch und ökonomisch bedeutet – selbst auf die Gefahr hin, damit Wähler zu verschrecken.

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Harald Christ ist Unternehmer und ehemaliger FDP-Schatzmeister.

In der Mathematik gibt es Gleichungen, für die es im Bereich der natürlichen Zahlen keine Lösung gibt. Stattdessen ergeben sich Brüche, Perioden oder, in manchen Fällen, die Erkenntnis, dass überhaupt kein plausibles Ergebnis möglich ist.

Vor einer solchen komplizierten Gleichung mit zahlreichen Unbekannten steht die Politik in diesem Sommer. Da sind die Naturereignisse wie Waldbrände, Dürren und Unwetter, die den Menschen endgültig klarmachen, dass die Natur nicht bereit ist, sich auf Kompromisse etwa. beim Klimaschutz einzulassen. Da ist Putins Krieg in der Ukraine, der uns vor Augen hält, wie fragil selbst in Europa Frieden und Demokratie sind. Und da sind – als Folgen der beiden genannten Katastrophen - wirtschaftliche Verwerfungen, die den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger bedrohen. Hinzu treten womöglich im Herbst und Winter noch bisher nicht absehbare Winkelzüge des Corona-Virus.

Wenn der allgemeine Eindruck nicht trügt, dann macht sich in weiten Teilen der Bevölkerung bereits jetzt ein diffuses Gefühl einer allgemeinen Bedrohung breit, die sich aus der – gefühlten oder tatsächlichen – Ballung von krisenhaften Erscheinungen speist. Die neuesten Zahlen, die einen dramatischen Einbruch bei der Binnennachfrage nach Konsumgütern belegen, sind ein alarmierender Frühindikator für eine fast dystopische Stimmung.

Und was tut die Politik? Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit seiner Bemerkung über die „Zeitenwende“ im Frühjahr die richtige Tonalität vorgegeben – ohne den Bürgerinnen und Bürgern allerdings zu erklären, was tatsächlich auf sie zukommt. Dass beispielsweise der Zenit unseres Wohlstandes womöglich erreicht oder gar überschritten ist, dass wir alle uns auf tiefgreifende Veränderungen einstellen müssen – ob wir wollen oder nicht.  Und dass sich die Veränderungen unserer Lebensumwelt völlig unabhängig von der Frage vollziehen, ob wir uns dem anpassen oder nicht.

Die Wahrheit ist nicht populär

Nun ist es in der Politik natürlich so – das sei zur Ehrenrettung der Handelnden gesagt –, dass die Ankündigung von Kurskorrekturen oder unangenehmen Wahrheiten nicht eben populär sind. Und da Regierende nun mal von Mehrheiten beim Wahlvolk abhängig sind, kann sich manche Wahrheit gerade vor Wahlen zum echten Stimmungskiller entwickeln: Billigflüge sind nicht nur ökonomisch und sozial, sondern auch ökologisch unsinnig? Da will uns wohl einer das Wochenende auf Malle vermiesen. Die Kinder im Zwei-Tonnen-SUV in die Kita zu fahren ist gelinde gesagt unvernünftig? Da steht nicht weniger als das Grundrecht auf Mobilität auf dem Spiel. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Gleichwohl wäre es dringend geboten, das Wort von der Zeitenwende mit einem konkreten Narrativ zu hinterlegen. Solange die Regierenden (und die Opposition sowieso) den Eindruck erwecken, ihr Kampf gegen die krisenhaften Erscheinungen werde auf die eine oder andere Weise schlussendlich zur Wiederherstellung des Status Quo führen, begeben sie sich auf eine gefährliche Reise. Sollte sich nämlich die heile Welt trotz aller Versprechen am Ende des Tages nicht wieder einstellen, kann sich die Enttäuschung in ziemlich unkontrollierbarer Weise Bahn brechen.



Möglicherweise ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, um einige Wahrheiten unmissverständlich auszusprechen – selbst auf die Gefahr hin, damit Wähler zu verschrecken. Angela Merkels legendärer Satz „Wir schaffen das“ bedarf einer Ergänzung. Und die lautet: „Wir schaffen das nur, wenn wir zu massiven Veränderungen bereit sind.“ 

Erforderlich sind zuvörderst eine konsequente Beschleunigung der Energiewende zum besseren Klimaschutz. So gut die Argumente des Einen oder Anderen auch sein mögen: Mit der Physik und der Chemie kann man nicht verhandeln. Selbst der weltweit größte Klimasünder, die USA, hat das inzwischen eingesehen und vergangene Woche das größte Klimaschutzpaket der Geschichte durch den Senat gebracht. Dieses Momentum muss genutzt werden. Fassen wir Mut – und ziehen die richtigen Schlüsse daraus.

Gleiches gilt für die Außenpolitik. Sicherheitsexperten schätzen, dass der Krieg Putins gegen die Ukraine auf gegenwärtigem Niveau noch jahrelang dauern könnte. Nicht nur humanitär sondern auch hinsichtlich der weltweiten wirtschaftlichen Folgen wäre das eine Katastrophe. Deshalb: Neben allen Debatten um Sanktionen und Waffenlieferungen muss endlich eine Diskussion darüber beginnen, welche Exit-Strategien es für diesen zerstörerischen Konflikt gibt. Das Mantra „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“ oder „Putin darf nicht siegen“ reicht allein nicht, um Perspektiven für ein Ende der Gewalt in den Blick zu nehmen. Auch hier gilt: Es gibt keine einfachen Antworten – umso wichtiger ist es, die richtigen Fragen zu stellen. Und ganz nebenbei: Neben dem politisch-militärischen Konflikt mit Russland gleich auch noch gegen die Volksrepublik China vorzugehen, ist kein probates Mittel, um die Lage zu beruhigen. Das gilt für manche Medien ebenso wie für die Politik.

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Dies alles sind Gleichungen, für die es keine geraden Lösungen gibt, geben kann. Aber: Es gibt die berechtigte Hoffnung, dass die Stimmung im Lande mehr denn dafür bereit ist, auch schwierige Antworten zu ertragen und Lasten zu schultern. Sie müssen nur benannt und offen angesprochen werden. Also: Machen wir uns endlich ehrlich!

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