„Absolutes Desaster“ Wirtschaft probt Aufstand gegen May

Am 29. März soll Großbritannien aus der EU austreten. Ein ungeordneter Brexit dürfte der Wirtschaft einen hohen Schaden zufügen. Quelle: REUTERS

Kurz vor dem nächsten Showdown im britischen Unterhaus proben die Unternehmen auf der Insel den Aufstand gegen die Politik von Premierministerin Theresa May.

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Weißer Stuck, hohe Räume, edler Parkettboden: der Rahmen war gediegen, die Diskussion der geladenen Wirtschaftsvertreter zivilisiert. Bis das Gespräch – unweigerlich – auf den nahenden Brexit kam. Obwohl es diesmal doch endlich einmal um ein ganz anderes Thema gehen, der EU-Austritt eigentlich ausgeklammert werden sollte: Experten und Unternehmer waren zusammengekommen, um die Frage zu ergründen, warum Großbritannien im Vergleich mit anderen Ländern auf dem Feld der Produktivität eigentlich so schlecht abschneidet.

Doch dann gab es kein Halten mehr: „Ich kann nicht erkennen, dass der Brexit irgendwelche potentiellen Vorteile bietet“, erklärte der Chef von Siemens UK, Jürgen Maier. Bei Siemens sei man pragmatisch und werde Wege und Mittel finden, mit jeder Art von Vereinbarung zurechtzukommen, solange sich der EU-Austritt in Richtung eines weichen Brexit entwickle. „Aber wenn Großbritannien Ende März ohne einen Deal aus der EU ausscheiden sollte, dann wären die künftigen Barrieren für uns einfach zu hoch“, polterte er. Und warnte: Die Investitionen und die Ausgaben für Forschung und Entwicklung würden sich dann zwangsläufig reduzieren. Von einem Tag auf den anderen würden die Folgen zwar nicht sichtbar sein, in einem Jahrzehnt aber schon.

„Absoluter Nonsens“ sei ferner das Argument der britischen Regierung, dass der Brexit Großbritannien große Chancen für neue vielversprechende Handelsabkommen mit dem Rest der Welt eröffne, die dem Königreich vorher verschlossen geblieben wären. Schließlich gebe es ja auch rege Handelsbeziehungen zwischen dem EU-Mitglied Deutschland und China. Aber Deutschland produziere eben Güter, die im Ausland gefragt seien, erklärte der Chef von Siemens UK mit einem unverblümten Seitenhieb auf Handelsminister Liam Fox, der bisher bei seinen Bemühungen um künftige Freihandelsabkommen mit den großen Schwellenländern nicht weiterkommt. Kürzlich hatte der Minister sogar einräumen müssen, dass es ihm in der verbleibenden Zeit nicht gelingen dürfte, den Löwenanteil der 40 Handelsabkommen, die die EU mit Drittländern abgeschlossen hat, rechtzeitig vor dem Brexit auf Großbritannien zu übertragen.

Gut 60 Tage vor dem offiziellen Austrittstermin am 29. März und wenige Tage vor dem nächsten großen Showdown im Parlament, bei dem Premierministerin Theresa May mit zahlreichen Änderungsanträgen für ihren bereits krachend gescheiterten Scheidungsplan rechnen muss, proben in- und ausländische Unternehmer auf der Insel den Aufstand und geben aus purer Verzweiflung ihre gewohnte Zurückhaltung auf.

Auch Richard Harrington, der Staatssekretär im britischen Wirtschaftsministerium, fällt seiner Regierungschefin nun öffentlich in den Rücken: „Es ist falsch und ein absolutes Desaster für die Wirtschaft wenn man sich weigert, den No-Deal-Brexit vom Tisch zu nehmen“, erklärte er. Genau das allerdings hatte May getan: Als Oppositionschef Jeremy Corbyn seine Teilnahme an überparteilichen Gesprächen zur Lösung des Brexit-Schlamassels von dieser Bedingung abhängig machte, erteilte ihm May sofort eine Abfuhr. Ihre Begründung: Wer die Drohung eines ungeordneten Brexit – den No-Deal – von vorneherein ausschließe, der gehe geschwächt in weitere Gespräche mit der EU.

„Ich halte allerdings nichts von dieser Idee“, so Harrington. Als ehemaliger Unternehmer wisse er schließlich, wie schädlich es sein könne, wenn Großbritannien im Handel mit der EU plötzlich nur noch auf die Regeln der Welthandelsorganisation WTO zurückfallen würde. „Die Zeit drängt“, warnte er, „ich denke da an den Chef des Autokonzerns Jaguar Landrover, Ralf Speth, der demnächst seine Komponenten ordern muss“. Die Behauptung der Brexitiers, dass ein Ausstieg ohne Abkommen keinen Schaden anrichten werde, sei grundverkehrt. Die Regierung habe die Pflicht, den No-Deal zu verhindern.

Harringtons offene Revolte zeigt, wie sehr May an Autorität eingebüßt hat und wie chaotisch es inzwischen in Großbritannien zugeht. Bis zu 40 Staatsekretäre und Minister, darunter vier Kabinettsmitglieder, haben dem Vernehmen nach gedroht zurückzutreten, um am Dienstag im Unterhaus gegen den Willen Mays für einen Antrag gegen den No-Deal-Brexit stimmen zu können. Harrington dürfte ebenfalls zu dieser Gruppe gehören. Der BBC hatte er kürzlich erklärt: „Ich bin nicht bereit, nur wegen eines politischen Dogmas gegen die Interessen der Wirtschaft zu handeln“. Er befürchte, dass Jaguar Landrover, die BMW-Tochter Mini und einige Pharma- und Biotechfirmen ihre Produktion in Großbritannien einstellen könnten.

Leere Drohungen sind das nicht: Am Donnerstag hatte sich Airbus-Chef Thomas Enders in einer Videonachricht zu Wort gemeldet und im Falle eines ungeregelten Austritts aus der EU wieder einmal mit der Schließung der britischen Airbus-Werke gedroht. „Wenn es einen Brexit ohne Abkommen gibt, müssen wir bei Airbus möglicherweise sehr schädliche Entscheidungen für Großbritannien treffen“, so Enders. Es sei zwar nicht möglich, die großen britischen Fabriken sofort in andere Teile der Welt zu verlegen, schließlich sei die Luftfahrt ein langfristiges Geschäft. Airbus fertigt in Großbritannien die Tragflächen für fast alle seine Passagier- und Frachtflugzeuge und beschäftigt dort 14.000 Mitarbeiter, 6000 davon in der Fabrik im walisischen Broughton, wo Flugzeugflügel gebaut werden, und 3000 in Filton im Westen Englands. Anders als viele andere Konzerne hatte Airbus schon vor dem Referendum im Sommer 2016 lautstark vor dem Brexit gewarnt.

Es sei eine Schande, dass die Unternehmen mehr als zwei Jahre nach dem Ergebnis des Referendums immer noch nicht in der Lage seien, für die Zukunft richtig zu planen, sagte Enders. Er sprach damit vielen aus dem Herzen. Sogar die japanischen Konzerne, die sich normalerweise immer zurückhalten, halten nicht mehr länger still. Der Elektronikkonzern Sony will sein europäisches Hauptquartier von Großbritannien in die Niederlande verlegen; so bleibe Sony auch nach dem Brexit ein Unternehmen mit europäischer Basis, begründeten die Japaner diesen Schritt. „Wir können dann wie üblich Geschäfte machen, ohne die Störungen fürchten zu müssen die erwartet werden, wenn Großbritannien die EU verlässt“ sagte Sony-Sprecher Takashi Iida.

Der Chef von Toyota UK, Tony Walker, warnte, ein No-Deal-Brexit gefährde die Lieferketten und damit eine tägliche Auto-Produktion im Wert von zehn Millionen Pfund am Tag. „Bei uns geht es nicht nur darum, dass 50 LKWs jeden Tag Komponenten anliefern, sondern darum, dass sie hier in einer bestimmten Reihenfolge eingeplant sind“, sagte er. „Es nützt uns nichts wenn 49 LKWs ankommen, aber LKW Nummer 17 fehlt“. Und verwies dann darauf, dass Toyota vor 30 Jahren auf die Insel kam, weil die damalige Premierministerin Margaret Thatcher den Autokonzern überredet hatte, dort seinen europäischen Firmensitz aufzubauen. „Sie sagte damals, kommt doch nach Großbritannien, denn hier könnt ihr Autos für den europäischen Markt bauen und problemlos dorthin exportieren“, so Walker.

Selbst Koji Tsuruoka, Japans Botschafter in Großbritannien spricht entgegen allen diplomatischen Gepflogenheiten inzwischen Klartext: „Wenn die operativen Geschäfte im Vereinigten Königreich nicht mehr profitabel sind, dann kann ein Unternehmen seine Tätigkeit nicht fortführen. So einfach ist es. Es geht also um sehr viel und ich glaube, wir alle sollten das im Kopf behalten“, sagte er.

Finanzminister Philip Hammond und Wirtschaftsminister Greg Clark, beide Remainer und als solche ohnehin Gegner des EU-Austritts, hatten nach der parlamentarischen Niederlage von Mays EU-Scheidungsentwurfs am 15. Januar in einer hastig einberufenen Telefonkonferenz mit britischen Vorstandschefs versichert, einen No-Deal-Brexit werde es nicht geben. Doch ihre Versuche, die Wogen zu glätten, misslangen: Die Stimmen aus der Industrie und aus den Unternehmensverbänden werden immer lauter und schriller.

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